Mission Vendetta: Thriller (German Edition)
glitzern. Etwas Metallisches.
Der Brieföffner.
Sie dachte nicht nach, hielt nicht einmal einen Augenblick inne, um die Konsequenzen zu bedenken. Als sie ihn spürte, fühlte, wie er sich hart und drängend an sie presste, schnappte sie sich die primitive Waffe, schwang den Arm herum und rammte sie ihm ins Knie.
» In einem Punkt hatte er recht«, schloss Anya grimmig. »Der Vorstand wollte mich in eine Besserungsanstalt schicken. Nur er hätte sie daran hindern können, aber das wollte er natürlich nicht tun. Nicht, nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass er den Rest seines Lebens mit einem Gehstock herumlaufen musste. Sie haben eine gute Stunde gebraucht, um mir all die Gründe aufzuzählen, warum ich ein schlechter Mensch wäre, warum ich nicht im Waisenhaus bleiben könnte, warum ich einen, wie sie sagten, ›höheren Standard der Fürsorge‹ bräuchte. Aber ich habe ihnen nicht zugehört, jedenfalls nicht richtig. Als ich diesen Brieföffner in die Hand nahm, war mir klar, was sie tun würden. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, dass sie mich an einen Ort schicken würden, der noch schlimmer war als Atsigrezk.« Sie seufzte. »Ich habe mich geirrt.«
Im Speisesaal hatte sich eine Menge Zuschauer versammelt, um dem Spektakel zuzusehen. Sie jubelten und brüllten jedes Mal, wenn das neue Mädchen von einem Schlag getroffen wurde.
Anya grunzte, als sie mit dem Rücken gegen die harte Wand prallte. Sie bekam keine Luft mehr und blickte hoch, als das größere Mädchen, Ludmilla, mit der geballten Faust ausholte und sie ihr ins Gesicht hämmerte.
Der Schmerz schien in ihrem Kopf zu explodieren, und ihr verschwamm alles vor den Augen, als sie auf die Knie sank. Ihr Blut tropfte auf das abgeschabte Linoleum des Bodens. Wieder jubelten und lachten die anderen jungen Mädchen und Frauen, froh darüber, dass es nicht sie traf.
Hier herrschte das Gesetz der Herde, und Ludmilla war das Alphaweibchen. Anya wusste, dass die anderen Mädchen sich nicht einmischen würden. Sie war auf sich allein gestellt. Das war sie seit jener Nacht gewesen, in der die Polizei zu ihr nach Hause gekommen war.
Ludmilla trat einen Schritt vor, packte Anyas Haar, holte mit dem anderen Arm aus und versetzte ihr einen brutalen rechten Haken.
Diesmal konnte Anya den Schlag nicht abfangen. Sie klappte zusammen, schlaff wie eine Puppe, und ihr Kopf krachte auf den harten Boden. Blut strömte aus ihrer aufgeplatzten Lippe, sammelte sich um sie herum, befleckte ihr Haar und ihr Gesicht. Vor ihren Augen tanzten Sterne und merkwürdige Lichtpunkte.
»Hast du jetzt endlich genug?«, schrie Ludmilla direkt vor ihr. Ihre Spucke flog Anya ins Gesicht. »Bleib liegen, du kleines blödes Miststück, sonst stehst du das nächste Mal überhaupt nicht mehr auf!«
»Ich hätte auf sie hören sollen«, erklärte Anya, während sie mit einer traurigen, nachdenklichen Miene diese Szene Revue passieren ließ. »Sie wollte nur meinen Respekt. Sie hätte mich in Ruhe gelassen, wenn ich liegen geblieben wäre. Ich hätte einfach nur liegen bleiben müssen.«
Nein.
Du hast alles getan, was man dir gesagt hat. Du hast jede Entscheidung akzeptiert, die sie getroffen haben, jede Demütigung ertragen, hast zugelassen, dass du dich selbst Stück um Stück aufgegeben hast. Und was hat es dir eingebracht?
Sie konnte nicht noch mehr ertragen, hatte nichts mehr, das sie noch opfern konnte.
Steh auf.
Plötzlich flammte Trotz in ihr auf, verbrannte alle Furcht, den Schmerz, die Trauer und die Schwäche. Ihre Sehkraft kehrte zurück, sie spie blutigen Speichel auf den Boden, zog die Arme unter sich und stemmte sich langsam hoch.
Das Gelächter und die Jubelrufe wurden schwächer, wurden vom Hämmern ihres Herzens verdrängt, das stark und lebendig schlug.
Ludmilla starrte sie an; ihre Miene zeigte eine Mischung aus Erschrecken, Ungläubigkeit und wachsender Wut. Die anderen Mädchen jubelten ihr jetzt nicht mehr zu. Viele sahen sich gegenseitig an, tauschten nervöse Blicke. Einige betrachteten Anya sogar mit widerwilligem Respekt.
Ludmillas vernarbtes, hässliches Gesicht verzerrte sich vor Wut, als sie sich auf Anya stürzte.
Dann passierte plötzlich etwas. Anya sah, wie sich die rechte Schulter des anderen Mädchens anspannte, sah, wie die Muskeln hervortraten, sich zusammenzogen, ihr verrieten, dass Ludmilla erneut zuschlagen würde. Sie konnte es nicht erklären, aber sie begriff es instinktiv. Es war ihr ebenso klar, als hätte die junge Frau ihr gesagt,
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