Mission Walhalla
Efeu überwucherte Ruine diente jetzt als Mahnmal für die Opfer des Krieges. Eines hatte sich allerdings nicht verändert: Man sagte ja, in Hannover würde das reinste Hochdeutsch gesprochen, und genauso hörte es sich für mich an.
Unsere sichere Unterkunft lag im Osten der Stadt auf der Hindenburgstraße, direkt neben einem großen Waldgebiet namens Eilenriede und unweit des Zoos. Es handelte sich um eine ziemlich große Villa in einem eher kleinen Garten, mit einem roten Mansardendach und einem achteckigen Türmchen, das eine Kuppel aus Silberstahl zierte. In diesem Eckturm befand sich mein Zimmer, und obwohl meine Tür nicht abgeschlossen wurde, wurde ich den Eindruck nicht los, dass ich nach wie vor ein Gefangener war. Vor allem, als ich Emile Vigée gegenüber erwähnte, dass ich von meinem Rapunzel-Aussichtspunkt aus zwei verdächtig aussehende Männer gesichtet hatte.
«Sehen Sie selbst», sagte ich und winkte ihn in mein Zimmer und ans Fenster. «Da drüben, das ist doch die Erwinstraße, oder?»
Er nickte.
«Die beiden Männer in dem schwarzen Citroën», sagte ich. «Die hocken seit mindestens einer Stunde da. Ab und an steigt einer aus, raucht eine Zigarette und beobachtet dieses Haus. Und ich bin ziemlich sicher, dass er auch bewaffnet ist.»
«Wie können Sie das von hier aus erkennen?»
«Es ist warm, aber er hat trotzdem alle drei Knöpfe an seinem Jackett geschlossen. Und hin und wieder rückt er irgendwas in Brusthöhe gerade.»
«Sie haben scharfe Augen, Kléber.»
Jedes Mal, wenn Vigée mich jetzt ansprach, nannte er mich Kléber oder Sébastien, damit ich mich schneller an den Namen gewöhnte.
«Ich war schließlich Polizist.»
«Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die beiden gehören zu uns. Sie werden Sie nach Berlin und wieder hierher zurückfahren, bevor es nach Göttingen und Friedland geht. Die Männer sind Deutsche, und sie sind die Strecke schon oft gefahren, daher sollte es keine Probleme geben. Sie arbeiten beim VdH hier in Hannover.» Er sah auf seine Uhr. «Ich hab sie heute Abend zum Essen eingeladen. Damit Sie sich kennenlernen. Anscheinend sind sie ein bisschen früh dran, das ist alles.»
Wir gingen zum Essen in die nahe gelegene Stadthalle am Theodor-Heuss-Platz, der ein Intermezzo als Hermann-Göring-Platz hinter sich hatte – ein imposantes Gebäude, das mit seiner gewaltigen Kuppel durchaus was von dem «Dicken» hatte, wie Hitlers rechte Hand im Volksmund genannt wurde. Mit seinem grünen Dach sah es halb nach Konzerthalle und halb nach Zirkuszelt aus, doch laut Vigée beherbergte es auch ein gutes Restaurant.
«Natürlich nicht so gut wie Paris», sagte er. «Aber für Hannover nicht schlecht. Und die Weinkarte kann sich durchaus sehen lassen. Ich schätze, deshalb hat es Göring so gut gefallen, was?»
Als wir im Lokal ankamen, brachen alle anderen Gäste gerade auf, um ins Freitagabendkonzert zu gehen. Vermutlich hatten sich die Franzosen bewusst diese Zeit ausgesucht, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten und nicht befürchten mussten, belauscht zu wurden. Die Musik war natürlich auch von Vorteil. Es war Mendelssohns Dritte Symphonie, die schottische.
Die beiden Franzosen waren vom Essen enttäuscht, ich hingegen fand es nach Monaten Gefängniskost überaus köstlich. Meine beide Landsleute hatten auch einen gesunden Appetit mitgebracht, waren aber ein wenig mundfaul. Sie trugen graue Anzüge, passend zu ihrem grauen Teint. Beide waren klein, der eine hatte leuchtend blondes Haar, das nach Blondierung aus der Flasche aussah; der andere hätte selbst aus der Flasche kommen können, so viel trank er, wenngleich es ihm nicht anzumerken war. Der Blonde hieß Werner Grottsch, der andere nannte sich Klaus Wenger. Sie schienen sich nicht sonderlich für mich zu interessieren. Vielleicht hatte Vigée sie bereits ausführlich über mich informiert, aber ich hielt es für wahrscheinlicher, dass sie mir ganz bewusst keine Fragen stellten, und falls das zutraf, bekundeten sie mir damit ihre Achtung. Ich revanchierte mich dafür, indem ich ebenfalls keine Erkundigungen über sie anstellte.
Schließlich kam Vigée auf den eigentlichen Zweck unseres Treffens zu sprechen.
«Sébastien hat die Grenze noch nie überschritten», sagte er. «Zumindest nicht, seit die DDR ihr Spezialsystem anwendet. Werner, seien Sie doch so nett und erläutern Sie ihm, wie das morgen ablaufen wird. Der Wagen, mit dem ihr fahrt, hat französische Diplomatenkennzeichen. Dennoch
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