Mission Walhalla
meinem inneren Auge erschienen die Bilder, Geräusche und Gerüche einer Hölle auf Erden. Aber vor allem erinnerte ich mich an einen glattrasierten jungen Mann von etwa zwanzig, der mit einer Brechstange in den Händen auf einem kopfsteingepflasterten Marktplatz stand, seine dicken Stiefel zentimetertief in dem Blut von drei Dutzend Männern, die tot oder sterbend zu seinen Füßen lagen; ich erinnerte mich an das erschrockene Lachen einiger deutscher Soldaten, die das bestialische Schauspiel beobachteten; und an den Klang eines Akkordeons, das eine muntere Melodie spielte, während ein älterer Mann mit langem Bart sich stumm und beinahe gelassen dem Kerl mit der Brechstange näherte und sofort einen Schlag auf den Kopf bekam; ich erinnerte mich an das Geräusch, als der alte Mann zu Boden sackte, und daran, dass seine Beine unkontrolliert zuckten wie die einer Marionette, bis die Brechstange ihn erneut traf.
Ich deutete mit dem Daumen zum Fenster. «Also gut», sagte ich. «Ich werde Ihnen alles erzählen. Aber kann ich vorher mein Gesicht für einen Moment in die Sonne halten? Damit ich weiß, dass ich noch lebe.»
«Im Gegensatz zu sechs Millionen anderen Menschen», sagte Earp spitz. «Aber bitte sehr. Wir haben keine Eile.»
Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Am Haupttor hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die offenbar auf jemanden wartete. Entweder das, oder sie suchten nach dem Fenster von Zelle Nummer sieben, was aber kaum anzunehmen war.
«Wird heute irgendwer entlassen?», fragte ich.
Silverman stellte sich neben mich. «Ja», sagte er. «Erich Mielke.»
«Mielke?» Ich schüttelte den Kopf. «Da irren Sie sich. Mielke ist nicht hier. Ausgeschlossen.»
Noch während ich das sagte, öffnete sich eine kleine Tür im Haupttor, und ein kleiner untersetzter grauhaariger Mann von etwa sechzig Jahren trat heraus, worauf die wartende Anhängerschaft in Jubel ausbrach.
«Das ist nicht Mielke», sagte ich.
«Ich glaube, Sie meinen Erhard Milch, Sir», sagte Earp zu Silverman. «Der Feldmarschall der Luftwaffe. Der wird heute entlassen.»
«Ja, genau der ist es», sagte ich. «Einen Moment lang dachte ich schon, es wäre ein richtiger Kriegsverbrecher.»
«Milch ist – war ein Kriegsverbrecher», beharrte Silverman. «Er war unter Albert Speer verantwortlich für Luftrüstung.»
«Und was ist kriminell daran, Flugzeuge zu bauen?», fragte ich. «Wenn ich mir den Zustand von Berlin 1945 so anschaue, dann habt ihr doch auch ziemlich viele gebaut.»
«Wir haben keine Zwangsarbeiter dafür eingesetzt», sagte Silverman.
Ich sah zu, wie Erhard Milch von einem hübschen Mädchen einen Blumenstrauß überreicht bekam, sich höflich vor ihr verbeugte und dann in einem eleganten neuen Mercedes von dannen fuhr, um den Rest seines Lebens zu beginnen.
«Wie lautete denn das Urteil dafür?»
«Lebenslänglich», sagte Silverman.
«So, so, lebenslänglich also. Manche Leute haben einfach unverschämt viel Glück.»
«Auf fünfzehn Jahre herabgesetzt.»
«Ich glaube, euer Hochkommissar kann nicht rechnen», sagte ich. «Wer kommt denn sonst noch hier raus?»
Ich nahm einen Zug von meiner faden Zigarette, schnippte die Kippe aus dem Fenster und sah zu, wie sie kreiselnd nach unten fiel und dabei eine Rauchspur hinter sich herzog wie eines von Milchs Luftwaffenflugzeugen.
«Sie wollten uns von Minsk erzählen», sagte Silverman.
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Kapitel 6 MINSK 1941
Am Morgen des siebten Juli 1941 befehligte ich ein Erschießungskommando, das dreißig russische Kriegsgefangene exekutierte. Ich hatte keine Skrupel, weil sie alle vom NKWD waren und keine zwölf Stunden zuvor selbst zwei- oder dreitausend Gefangene im NKWD -Gefängnis in Lutsk massakriert hatten. Außerdem hatten sie ein paar deutsche Kriegsgefangene ermordet, die ihnen in die Hände gefallen waren. Kein schöner Anblick. Sie könnten einwenden, dass es ihr gutes Recht war, so zu handeln, denn schließlich waren wir es, die ihr Land überfallen hatten. Sie könnten auch zu bedenken geben, dass wir aus demselben Grund nicht berechtigt waren, sie zur Vergeltung hinzurichten, und wahrscheinlich liegen Sie mit beidem richtig. Trotzdem taten wir es, aber nicht, weil wir dem sogenannten Kommissarbefehl oder der Weisung Barbarossa Folge leisteten; dabei handelte es sich im Grunde lediglich um eine Schießerlaubnis vom deutschen Oberkommando. Wir taten es, weil wir überzeugt waren – weil ich überzeugt war –, dass sie
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