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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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fallen in die Kategorie der »Tamagotchi-Geste«, wie mein Freund John Clute es bezeichnet. Sie sind nutzlos und pflegeaufwendig und schenken gerade deshalb Trost, weil man sich so viel um sie kümmern muss.
    Klassische mechanische Uhren gehören zu den interessantesten Fossilien des prädigitalen Zeitalters. Jede ist eine Miniaturwelt in sich, ein kleiner funktionierender Mechanismus, eine Ansammlung winziger und geheimnisvoller beweglicher Teile. Beweglicher Teile! Diese Uhren sind also gewissermaßen lebendig. Sie haben einen Herzschlag. Ähnlich einem Tamagotchi scheinen auch sie auf »Liebe«, üblicherweise in Form kostspieliger Dienstleistungen eines Spezialtechnikers, zu reagieren. Wie alte Dampftraktoren oder Vincent-Motorräder lassen sie sich quasi in jedem Zustand des Verfalls mühevoll restaurieren.
    Und vergleichbar mit vielen anderen Dingen vom Dachboden der Welt befinden sich die meisten wirklich guten Uhren bereits im Besitz irgendeines Sammlers.
    Diejenigen, die noch erhältlich sind, werden dagegen höchstens für ein paar Tausend Dollar gehandelt – die gespenstischenPreise, die bei einer Uhrenauktion im Sotheby’s aufgerufen werden, lassen wir hier mal außen vor. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels wird auf der Website eines New Yorker Händlers die begehrenswerteste klassische Rolex, eine Edelstahl-Bubbleback-Automatik, für einen Preis von nur 3800 Dollar angeboten – ein Bruchteil dessen, was man für viele moderne Uhren desselben Herstellers bezahlt. (Und sie ist um einiges cooler und besitzt deutlich mehr virtù als diese diamantbesetzten goldenen Zuhälterteile!)
    In den frühen Fünfzigern kaufte mein Vater in einem Dutyfree-Shop auf den Bermudas eine Edelstahl-Rolex Oyster mit einem rostfreien Stahlarmband.
    Als er kurz darauf starb, schloss meine Mutter die Rolex in einem Banktresor ein, bis ich sie mit achtzehn dazu überreden konnte, die Uhr herauszurücken. Von einem Rolex-Händler in Tucson ließ ich das weiße Zifferblatt durch ein schwarzes ersetzen, damit sie der Uhr ähnelte, die James Bond in den Romanen von Ian Fleming trägt. Ich habe diese Uhr geliebt – bis ich sie eines traurigen Abends für einen läppischen Preis an einen Klassenkameraden verkaufte, um mit dem Geld ein Hotelzimmer zu bezahlen, in dem ich ein letztes, bitteres Stelldichein mit meiner damaligen Freundin genoss (wenn man es denn so nennen kann). Es war eine dieser dämlichen, im Grunde selbstzerstörerischen Gesten, die ich jedoch bis heute nicht bereue. Ich brauchte das Hotelzimmer. Aber die Uhr, diese Rolex Oyster Precision, habe ich immer vermisst und heimlich mit dem Gedanken gespielt, sie irgendwann durch eine Ähnliche zu ersetzen. Getan hatte ich es jedoch nie und mich lange Zeit mit Quartz begnügt. Meine letzte Quartz-Uhr war ein französisches, auf Militäruhr getrimmtes Modell, das ich bei der Heimreise vom Filmfestival in Cannes auf dem Flughafen erstanden hatte. Sie hatte etwa einhundert Dollar gekostet. Und war vollkommen ausreichend – nur für die Tamagotchi-Geste taugte sie nicht.
    Im letzten Jahr blieb ich dann aus irgendeinem Grund an einer Anzeige hängen, die wiederholt in britischen Zeitschriften für Männermode geschaltet wurde und die »Big Crown Commander« von Oris bewarb. Es war eine sehr attraktive Uhr, wie ich fand – ein Schweizer Fabrikat, mechanisch und vergleichsweise preiswert. Dank meines brandneuen Netzzugangs fand ich heraus, dass Oris in Kanada keinen Vertragshändler hatte. Was die Uhr nur umso cooler erscheinen ließ. Ich machte deshalb über das Netz einen Händler in Seattle ausfindig, der die »Big Dick Commando«, wie ein Freund von mir sie getauft hatte, im Angebot hatte. (Die Krone, das Rädchen, an dem man dreht, um die Uhr zu stellen, ist bei diesem Modell besonders groß, sodass man es benutzen kann, ohne seine RAF-Fliegerhandschuhe ausziehen zu müssen.)
    Und ich war und bin immer noch sehr glücklich damit.
    Außer dass ich mich bei meiner Suche nach der Big Crown Commander versehentlich – und ohne es damals zu merken – mit dem eBay-Virus infizierte.
    In der Folge wurde ich ein bisschen zwanghaft.
    Kaum war ich morgens in meinem Kellerbüro, rief ich auch schon »die Seite« auf. Bei eBay starten täglich Auktionen, es gab also immer etwas Neues anzuschauen.
    Die erste Uhr, die ich dort kaufte, war eine Croton Aquamedico, ein relativ seltenes – oder randständiges, je nachdem, wie man es betrachtet – Schweizer Fabrikat mit Handaufzug

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