Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
erzählt uns, dass ihr nächster, ebenfalls digital in Jamaika gedrehter Film den Titel Third World Cop tragen wird – einer der besten Filmtitel, von denen ich in diesem Jahr gehört habe.
    Und dann gehen wir zum zweiten Film über: The Book of Life von Hal Hartley. In einer der Hauptrollen als Rucksack tragende persönliche Assistentin von Jesus Christus ist die Sängerin P. J. Harvey zu sehen. Der Film wurde buchstäblich für ein Appel und ein Ei für das französische Fernsehen gedreht.
    Am letzten Tag des Jahres 1999 umkreisen ein makellos gekleideter Jesus und ein bukowskiesker Teufel einander in einer Reihe heruntergekommener Bars und kalter Anwaltsbüros und versuchen, sich darüber einig zu werden, was mit Jesus’ Power-Book geschehen soll. Dieses enthält das biblische siebte Siegel: Wird die entsprechende Datei geöffnet, startet das Programm des Jüngsten Tages und die Hölle bricht los. Außerdem befindet sich Jesus auf der abenteuerlichen Mission, die Seele einer Kellnerin zu retten, die den Überredungskünsten des Teufels verfallen ist. Der Film wird von einer wunderbaren nervösen Energie beherrscht, die durch die lockere Kameraarbeit noch verstärkt wird. Hartley spielt mit den sogenannten Grenzen des digitalen Films: Seine Bilder verwischen, verschwimmen, ruckeln, zerpixeln und verzerren sich. Die Grammatik, die er entwirft, ist seltsam faszinierend und der Film witzig, sanft und atemberaubend.
    Ich schaue wieder zu Claire hinüber. Für mich wird sie zum Grubenvogel, so wie die Bergleute einst Kanarienvögel benutzten, um vor giftigen Gasen gewarnt zu sein. Fällt sie ins Koma, wird eine wichtige demografische Zielgruppe offenbar nicht erreicht. Kann eine solche reduzierte Produktionsweise die Aufmerksamkeit einer Teenagerin fesseln, die mit Studioprodukten großgeworden ist?
    Hartleys Film scheint ihr, trotz Handkamera und allem, zu gefallen. Wir sind jetzt also bereit für Das Fest von Thomas Vinterberg, ein mit Digitalkamera gedrehter dänischer Film, der letztes Jahr in Cannes den Jurypreis gewann.
    Vinterberg hält sich in dem Film an die Prinzipien des Manifests Dogma 95, in dem verschiedene Regeln festgehalten werden, etwa die Verwendung von Originalsound, natürlicher Beleuchtung und anderer neuer Realitäten des digitalen Films. Das Fest spielt in einem schönen Schloss, erkundet die psychischen Abgründe einer großen und außerordentlich dysfunktionalendänischen Familie und ist … sehr lang. Nach zwanzig Minuten dänischer Schwermut sehe ich den Grubenvogel-Effekt eintreten. Claire steht kurz davor, ins Bett zu gehen und vorher nochmal bei MTV reinzuschalten, um den Kopf frei zu kriegen.
    Bei mir löst Das Fest einen Joe-Bob-Briggs-Reflex aus, aber vielleicht liegt es auch daran, dass drei Filme hintereinander ein bisschen viel für mich sind. Oder daran, dass der Film 105 ernste Minuten Arthouse-Kino bietet, voller Inzest und unterdrückter Missbrauchserinnerungen. In Burbank wäre es jedenfalls ein schwieriger Pitch gewesen.
    Dennoch, obwohl mir der Film nicht sonderlich gefällt, bin ich ehrlich froh, dass es ihn gibt. Vermutlich hat Vinterberg genau den – langen – Film gedreht, den er drehen wollte, und eine Technologie, die einen solch persönlichen Schöpfungsprozess ermöglicht, hat definitiv ihre Berechtigung.
    Claire geht ins Bett, Das Fest ist vorbei, Suzanne und mein Freund Roger verabschieden sich, und ich trete auf die Terrasse hinaus, um den Duft des Eukalyptus einzuatmen und über Träume und Medienplattformen nachzudenken und darüber, wie Medienplattformen die Träume beeinflussen und umgekehrt.
    Der digitale Film scheint mir eine neue Plattform zu sein, die immer noch der Sprache und Mythologie einer älteren verhaftet ist. Ein Lamm im Fell eines Hammels – wir nennen es noch »Film«, obwohl schon lange kein Zelluloid mehr verwendet wird. (Dabei sind heutzutage gewissermaßen alle Filme digital, weil sie mit Avid geschnitten werden.)
    Trotzdem kommen die Leute immer noch nach Hollywood, und für einige der Menschen in den Autos, die ich jetzt auf dem Sunset vorbeifahren höre, ist es sicher ein großer Traum, Filme zu machen. Während ich wieder hineingehe, muss ich an den Garagen-Kubrick denken und frage mich, was er wohl vonden Filmen halten würde, die wir uns gerade angesehen haben. Wahrscheinlich nicht viel.
    Der Garagen-Kubrick (einen richtigen Namen bekam er nie) ist eine Figur, die es irgendwie nicht in meinen letzten Roman geschafft hat. In meinen

Weitere Kostenlose Bücher