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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Unterschied zwischen dem, was ein Computer ist, und dem, was keiner ist, begreifen werden.
    Oder anders ausgedrückt: Sie werden den »Computer« als eigenständige Objektkategorie oder Funktion nicht mehr kennen. Das logische Resultat wahrhaft allgegenwärtigen Rechnens ist die vernetzte Welt, die im Prinzip ein einziges, lückenloses Interface besitzen wird. Die Vorstellung eines Geräts, das »nur« rechnet, wird in einer Welt, in der jeder Kühlschrank und jede Zahnbürste potenziell genauso intelligent sind wie ihre Benutzer, höchstwahrscheinlich ziemlich altmodisch anmuten. In einer solchen Welt kommunizieren intelligente Gegenstände unablässig miteinander und mit uns. Es besteht keine Notwendigkeit, das menschliche Gehirn zu erweitern, weil die wichtigste Erweiterung bereits außerhalb desKörpers mithilfe einer dezentralisierten Datenverarbeitung erreicht wurde.
    Wir brauchen dann keinen intelligenten Glibber im Hirn, weil unsere Kühlschränke und Zahnbürsten schon unglaublich intelligent und immer für uns da sein werden.
    Ich glaube deshalb nicht, dass die Computer insektengleich in die tiefsten Spalten unseres Wesens hineinkriechen werden, sondern dass die Menschheit insektengleich herauskriechen wird in eine Welt, die wir selbst geschaffen haben, die wir gerade jetzt schaffen und die im Begriff steht, uns neu zu erschaffen.
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    Dieser Essay war ein Versuch, so direkt und umfassend wie möglich eine Frage zu beantworten, die mir schon unzählige Male gestellt wurde.
    Ich bin froh, dass wir noch immer weitgehend ein Produkt der Natur sind.
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Wired Oktober
1999
    Errichtet in den späten Zwanzigern, zur Glanzzeit der frühen Studios, birgt das Chateau Marmont eine feine, tiefe Mulchschicht der Psychogeografie Hollywoods und eine Vielzahl von Gespenstern. Man kann sich nur schwer vorstellen, in diesen Bungalows etwas wirklich zum ersten Mal zu tun. Aber vielleicht gelingt uns das ja heute Abend: Wir halten ein privates Festival des Digitalfilms ab und zeigen Filme, die ohne, nun ja, Film, gedreht wurden.
    Als Erstes: Dancehall Queen , ein Film aus Jamaika, den wir uns zusammen mit seiner Ko-Autorin und Cutterin Suzanne Fenn anschauen werden.
    Suzanne war 1970-71 Mitglied von Jean-Luc Godards Gruppe Dsiga Wertow, wo sie das Sinnbild der befreiten Frau verkörperte. Geschult von dem großartigen Dokumentarfilmer Joris Ivens war sie Cutterin bei Errol Morris’ Gates of Heaven , bei sämtlichen Filmen Michael Tolkins, einigen Werken Percy Adlons und Louis Malles und vieler anderer.
    Dancehall Queen , gedreht im jamaikanischen Getto Standpipe, ist eine rein digitale Produktion, das Ergebnis von Chris Blackwells Bemühungen, ein modernes Filmstudio in Jamaika zu etablieren. Digitalkameras und digitaler Schnitt senken den finanziellen Aufwand des Filmemachens und öffnen es dadurch. Die Kosten reduzieren sich so weit, dass auch Filme für ein kleineres Publikum gedreht werden können, was die Entstehung eines indigenen Kinos möglich macht. Es ist die Dritte-Welt-Version dessen, was die Amerikaner »Guerilla-Filmen« nennen,und dasselbe Vokabular von Techniken und Strategien kommt dabei zur Anwendung: spontanes Drehen auf der Straße, der Einsatz von nichtprofessionellen Schauspielern und so weiter.
    Lauscht man Suzannes Erzählungen und sieht sich dann ihren Film an, wird schnell offensichtlich, dass Dancehall Queen ohne diese Technologie nicht hätte gedreht werden können. In einer Gegend, in der hauptsächlich illegale Squatter leben, ist es quasi unmöglich, mit herkömmlicher Ausrüstung und einer großen Crew zu arbeiten. (Dort gibt es nicht einmal Autoritätspersonen, die man bestechen könnte.) Und so öffnet die digitale Technologie die Welt auf neue und umfassende Weise: Kann man einen Ort irgendwie erreichen, kann man auch dort drehen. Trotz ihrer Vergangenheit in Europa ist Suzanne nicht der Typ, der sich aus Nostalgie an eine alte Medienplattform bindet. In Dancehall Queen holt sie das Beste aus der neuen Technologie heraus und ermöglicht dem Zuschauer, in die grellen Farben, die hypnotische Energie und die von Verzweiflung geprägte Sozioökonomie des Standpipe-Gettos und seiner Clubszene einzutauchen.
    Am Ende des Films schaue ich zu meiner Tochter Claire, 16, hinüber und sehe, dass auch sie begeistert ist, obwohl in dem Film eine Variante des Englischen gesprochen wird, die jeden amerikanischen Filmverleiher nach der nächstbesten Untertitelungsfirma hätte rufen lassen.
    Suzanne

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