Mister Aufziehvogel
unmoralischer Akt an - wie seinen Lebenslauf zu frisieren oder sich als Frau auszugeben. Niedergedrückt von einer Empfindung, die stark an ein schlechtes Gewissen erinnerte, verspürte ich eine zunehmende Atembeklemmung.
Ich ging in die Diele, holte meine braunen Schuhe aus dem Regal und zwängte mich mit Hilfe eines Schuhlöffels hinein. Sie waren mit einer feinen Staubschicht überzogen.
Wie sich herausstellte, brauchte ich die Frau gar nicht ausfindig zu machen. Sie fand mich. Im Tea-room angekommen, machte ich einen raschen Rundgang und sah mich nach dem roten Hut um. Es gab keine Frauen mit roten Hüten. Nach meiner Uhr war es zehn Minuten vor vier. Ich setzte mich, trank das Wasser, das man mir brachte, und bestellte eine Tasse Kaffee. Kaum hatte die Kellnerin meinen Tisch verlassen, als ich hinter mir eine Frau sagen hörte: »Sie müssen Herr Toru Okada sein.« Überrascht drehte ich mich um. Es war keine drei Minuten her, daß ich das Lokal abgegangen war.
Sie trug eine weiße Jacke über einer gelben Seidenbluse, und auf dem Kopf hatte sie einen roten Vinylhut. Ich stand reflexartig auf und starrte sie an. Man hätte sie mit Fug und Recht als schön bezeichnen können; zumindest war sie weitaus schöner, als ich sie mir nach ihrer Telefonstimme vorgestellt hatte. Sie hatte eine schlanke, reizende Figur und war dezent geschminkt. Sie wußte sich anzuziehen - wenn man von dem roten Hut absah. Ihre Jacke und Bluse waren elegant geschnitten. Am Revers der Jacke funkelte eine Goldbrosche, die wie eine Feder geformt war. Man hätte sie für eine Chefsekretärin halten können. Warum sie eine ansonsten so sorgfältig komponierte äußere Erscheinung mit diesem absolut unpassenden Hut zerstörte, ging über meinen Verstand. Vielleicht trug sie ihn immer in solchen Situationen, um es den Leuten leicht zu machen, sie zu identifizieren. Dann war es keine schlechte Idee. Wenn das Ding dazu gedacht war, sie in einem Raum voller Leute auffallen zu lassen, dann erfüllte es fraglos seinen Zweck. Sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch, und ich nahm wieder Platz. »Es wundert mich, daß sie mich erkannt haben«, sagte ich. »Ich konnte meine gepunktete Krawatte nirgends finden. Ich weiß, daß ich sie irgendwo habe, aber ich habe sie einfach nicht gefunden. Deswegen habe ich mir diese gestreifte hier umgebunden. Ich dachte mir, ich würde Sie schon erkennen, aber woher haben Sie gewußt, daß ich es war?«
»Natürlich habe ich gewußt, daß Sie es waren«, sagte sie und legte ihre weiße Lacklederhandtasche auf den Tisch. Sie nahm den roten Vinylhut ab und legte ihn auf die Tasche, so daß diese völlig darunter verschwand. Es kam mir so vor, als wollte sie einen Zaubertrick vorführen: wenn sie den Hut hob, wäre die Tasche weg.
»Aber ich hatte doch die falsche Krawatte an«, wandte ich ein. »Die falsche Krawatte?« Sie sah mit verdutzter Miene auf meinen Schlips, als wollte sie sagen: Wovon redet dieser komische Kauz eigentlich? Dann nickte sie. »Es spielt keine Rolle. Machen Sie sich bitte darum keine Gedanken.« Ihre Augen waren merkwürdig. Es fehlte ihnen unerklärlicherweise jegliche Tiefe. Es waren schöne Augen, aber sie schienen nichts anzusehen; sie waren ganz Oberfläche, wie Glasaugen. Aber selbstverständlich waren sie nicht aus Glas. Sie bewegten sich, und die Lider blinzelten.
Wie hatte sie es nur geschafft, mich unter all den Gästen dieses belebten Tearooms auszumachen? Die Tische waren fast restlos besetzt, und an vielen saßen Männer meines Alters. Ich wollte sie eigentlich um eine Erklärung bitten, aber ich hielt mich zurück. Besser keine irrelevanten Fragen aufwerfen. Sie winkte einen vorbeigehenden Kellner heran und bestellte ein Perrier. Perrier, sagte er, führten sie nicht, aber er könne ihr Tonic-water bringen. Sie dachte einen Augenblick nach und nahm dann seinen Vorschlag an. Während sie auf ihr Tonic wartete, sprach sie kein Wort, und ich schwieg ebenfalls.
Nach einem Weilchen hob sie ihren roten Hut und öffnete den Schnappverschluß der Handtasche, die darunter lag. Der Tasche entnahm sie ein glänzendes schwarzes Lederetui, nicht ganz so groß wie eine Musikkassette. Es war ein Visitenkartenetui. Wie die Handtasche hatte es einen Schnappverschluß - das erste verschließbare Visitenkartenetui, das ich bis dahin gesehen hatte. Sie zog eine Karte heraus und reichte sie mir. Ich führte die Hand an die Brusttasche, um eine von meinen Visitenkarten herauszuholen, da
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