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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vorkommen, daß eine gelegentlich ihre Stunden von neun bis fünf absitzt, weil sie nun mal muß, obwohl sie viel lieber den Tag blaumachen würde, aber zum größten Teil, glaube ich, haben sie Spaß an der Arbeit. Das muß daran liegen, daß sie wissen, daß es nur um eine begrenzte Zeit geht, wie eine Hängebrücke zwischen der einen und der anderen Welt. Deswegen wollen sie sich, solange sie hier sind, so gut wie möglich amüsieren. Schließlich ist das hier für sie nur eine Durchgangsstation.
    Aber nicht für mich. Für mich ist das hier keine Überbrückung oder Transitzeit oder sonstwas. Ich hab nicht die leiseste Ahnung, wie es von hier aus weitergehen wird. Für mich könnte das die Endstation sein, verstehen Sie? Also macht mir die Arbeit hier strenggenommen auch keinen Spaß. Ich versuche lediglich, die Arbeit in jeder nur möglichen Hinsicht zu akzeptieren. Wenn ich eine Perücke mache, denk ich an nichts anderes als daran, diese Perücke zu machen. Ich bin total bei der Sache - so sehr, daß ich richtig ins Schwitzen gerate.
     
    Ich weiß nicht genau, wie ich ’s sagen soll, aber in letzter Zeit denk ich irgendwie manchmal an den Jungen, der bei dem Motorradunfall getötet wurde. Ehrlich gesagt, hab ich früher nicht gerade oft an ihn gedacht. Vielleicht hatte der Schock vom Unfall mein Gedächtnis oder wasweißich irgendwie ins Abartige verdreht, denn Tatsache ist, daß ich mich immer nur an seine abartigen Seiten erinnerte: wie er unter den Armen gestunken hat, oder was für ein völliger Hohlkopf er war, oder wie er immer versuchte, mir seine Finger in die abwegigsten Stellen zu stecken. Aber ab und zu fällt mir auch etwas Nichtso-schlechtes über ihn ein. Besonders wenn mein Kopf ganz leer ist und ich einfach nur Haare in eine Stoffhaut pflanze, dann fallen mir aus heiterem Himmel solche Dinge ein. Ja, stimmt, denk ich dann, so war er. Die Zeit läuft wohl nicht der Reihe nach ab, wie? - so A,B, C, D? Die läuft einfach, wie sie grad Lust hat.
     
    Darf ich ganz ehrlich zu Ihnen sein, Mister Aufziehvogel? Ich meine, wirklich ganz, ganz, ganz ehrlich? Manchmal hab ich sooolche Angst! Ich wach mitten in der Nacht auf und bin ganz allein, Hunderte von Kilometern weg von allen, die ich kenne, und es ist stockdunkel, und ich hab nicht die blasseste Ahnung, wie die Zukunft für mich werden wird, und ich krieg eine solche Angst, daß ich schreien möchte. Passiert Ihnen das manchmal auch, Mister Aufziehvogel? Wenn es passiert, versuche ich mich daran zu erinnern, daß ich doch mit anderen in Verbindung stehe - mit anderen Dingen und anderen Leuten. Ich geh mir die allergrößte Mühe, ihre Namen im Kopf aufzulisten. Auf der Liste stehen natürlich einmal Sie, Mister Aufziehvogel. Und die Gasse und der Brunnen und der Dattelpflaumenbaum und lauter solche Sachen. Und die Perücken, die ich hier mit meinen eigenen Händen gemacht habe. Und die ganzen Bruchstücke und Kleinigkeiten, die ich von dem Jungen noch weiß. Diese ganzen Kleinigkeiten (obwohl Sie nicht einfach nur eine von diesen Kleinigkeiten sind, Mister Aufziehvogel, aber wie auch immer … ), die helfen mir, nach und nach wieder » hierher « zurückzukommen. Und dann tut es mir auf einmal leid, daß ich meinem Freund nie erlaubt hab, mich nackt zu sehen oder mich zu berühren. Damals war ich eisern dagegen, daß er mich anfaßte. Manchmal, Mister Aufziehvogel, denk ich, daß ich für den Rest meines Lebens Jungfrau bleiben möchte. Ganz im Ernst. Was meinen Sie dazu? Tschüs, Mister Aufziehvogel. Ich hoffe, Kumiko kommt bald zurück.

16
    D ES DASEINS MÜH’ UND BÜRDE
    DIE WUNDERLAMPE
     
    Abends um halb zehn klingelte das Telefon. Es klingelte einmal, verstummte und fing dann wieder an. Das mußte Ushikawas Signal sein.
    »Hallo, Herr Okada«, sagte Ushikawas Stimme. »Hier ist Ushikawa. Ich bin grad in Ihrer Gegend und dachte, ich könnte vorbeischauen, wenn’s Ihnen recht wäre. Ich weiß, es ist spät, aber es gäbe da etwas, worüber ich mit Ihnen gern persönlich gesprochen hätte. Was meinen Sie? Es hat mit Frau Kumiko zu tun, da dachte ich, es könnte Sie interessieren.«
    Während ich Ushikawa zuhörte, malte ich mir seinen Gesichtsausdruck aus. Er lächelte selbstzufrieden, die Lippen geschürzt, die schmutzigen Zähne bloßgelegt, als wollte er sagen: Ich weiß genau, das ist ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können; und leider Gottes hatte er recht.
     
    Er brauchte exakt zehn Minuten bis zu mir. Er trug dieselben Sachen,

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