Mister Peanut
in dem Buch, verstand aber das Wenigste, da sich auf den folgenden Zeilen die fremden Namen und seltsamen Ereignisse häuften. Trotzdem konnte er sich vorstellen, Marilyn laut vorzulesen. Das wäre sein Geschenk. Sie würde die Gedichte verstehen. Und später dann, wenn Marilyn allein war und las, wäre es so, als lese er , als wäre er noch da. Beim Lesen würde sie seine Stimme hören. Er wäre unglaublich klein und sie riesengroß, und er könnte in ihr Ohr klettern und ihr zuflüstern. Er ließ das Buch in der Gesäßtasche seines Arbeitsoveralls verschwinden.
Das Haus der Newharts schaffte er in Rekordzeit – wobei er das Gästezimmer ignorierte, in dem sich seit letzter Woche ohnehin niemand aufgehalten hatte. Dann machte er sich auf zu den Bradfords, wo er sicherlich auch etwas für Marilyn finden würde. Priscilla, die Mutter von Mrs. Bradford, lebte in einem Zimmer über der Garage. Das alte Huhn wusste nicht einmal mehr seinen eigenen Namen, hockte aber auf einer ganzen Schublade voller Schmuck, der hübsch geordnet (Ringe, Ohrringe, Halsketten) auf etliche dekorative Schachteln verteilt war, und oben auf der Kommode stand ein Glasregal mit altem Krimskrams: ein silbernes Fischmedaillon, dessen Mund sich öffnen ließ; ein Ring mit einer Geheimkammer unter dem Stein; eine filigrane Damenuhr mit schwarzem Ziffernblatt und goldenen Zeigern. Am einfachsten konnte man dort etwas mitgehen lassen, wenn man Mrs. Bradford die Arbeit mit der alten Dame abnahm: »Mrs. Bradford, soll ich Ihrer Mutter den Tee raufbringen?« Oder: »Mrs. Bradford, vielleicht sollten Sie mit raufgehen, wenn ich sauber mache, nur falls Ihre Mutter über das fremde Gesicht erschrickt.« Woraufhin sie ihn an der Schulter berührte – sie war ein geiles, selbst schon altes Mädchen – und sagte: »Dickie, in ihren Augen bist du der Sohn, den sie niemals hatte.« Dann lachte sie und zündete sich eine ihrer langen, dünnen Zigaretten an.
Als Eberling das Zimmer über der Garage betrat, saß Priscilla in der Ecke im Ohrensessel, der so auf das rückwärtige Fenster ausgerichtet war, dass sie auf den See schauen konnte. Zuerst veranstaltete er ein Riesenbohei, klapperte mit Eimer und Wischmopp, putzte energisch Badewanne und Toilette, ließ den Klodeckel herunterknallen, wartete auf das Zuklappen der Fliegentür und beobachtete, wie Mrs. Bradford, einen Whisky Sour in der Hand, zum Ufer hinunterwankte. Dann stellte er sich dicht neben Priscilla, so nah, dass er sein Spiegelbild in ihren milchigen Augen sehen konnte, und musterte den Schmuck, den sie trug (Mrs. Bradford kleidete ihre Mutter jeden Morgen an), wobei die alte Hexe erwartungsvoll den Kopf neigte wie ein freundlicher Hund. Sobald er sich alles eingeprägt hatte, Ringe und Ohrringe und Kette, durchsuchte er die Schubladen nach möglichst ähnlich aussehenden Stücken, nach Perlohrringen beispielsweise und nach einem goldenen Amulett, das er dann probeweise neben den vermeintlichen Zwilling hielt, als wäre Priscilla eine Schaufensterpuppe. Er nahm ihr den Schmuck ab und ließ ihn in seinen schmutzigen Eimer fallen, wobei das alte Huhn ihm sogar noch behilflich war, indem es ihm das Ohr entgegenhielt oder den Arm ein Stück weit anhob.
Er dachte an Marilyn, seine Lippen bewegten sich stumm. Ich will dir mein Geheimnis verraten.
Eberling putzte das geräumige Haus der Bradfords seit zwei Jahren, ohne jemals Mr. Bradford begegnet zu sein. Er wusste jedoch, dass ein Mann im Hause war, denn manchmal war das Bett in dem kleinen, ans Schlafzimmer angrenzenden Raum zerwühlt, und ein Anzug, der denen im Kleiderschrank glich, lag auf der Sessellehne. Oft durchstöberte Eberling die Brust- und Hosentaschen des Anzugs und machte überraschende Funde: teure, in Zellophan eingewickelte Zigarren, Golf-Tees mit Monogramm, ein Visitenkartenetui aus Silber, eine Geldklammer mit Gravur. Auch hier bestand der Trick darin, niemals alles mitzunehmen und von den wertvollsten Wertgegenständen abzusehen; denn hinter der allzu leichten Beute konnte sich eine Falle verstecken, eine Fangfrage des Vertrauens, ein Hinterhalt des Arbeitgebers. Die wahren Geschenke warteten unter Kommoden und Nachttischen, in den Kartons in den Abstellkammern, in Kisten, die dem Vergessen anheimgegeben und deren Etiketten mehrmals durchgestrichen waren, an Orten, wo man sie höchstens bei einem Umzug oder nach dem Tod eines Angehörigen entdecken würde, wenn ein Kind oder Ehegatte in den Sachen
Weitere Kostenlose Bücher