Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
Vom Netzwerk:
dafür, Anfang Juni, sie hatte noch nicht einmal das erste Trimester hinter sich gebracht, aber sie wollte es unbedingt verkünden, wenn alle beisammensaßen. Und während die Schwangerschaft mit Chip von Ängsten und Sorgen geprägt war, überschattet vom Tod ihrer Mutter und ihres Bruders, und im Nachhinein den Niedergang ihrer Ehe eingeläutet hatte, den Beginn seiner immer länger dauernden Abwesenheitsphasen, den Verlust ihrer Freiheit und das Ende des Sex, schien Marilyn das Kind diesmal freudig zu erwarten. Und am Tisch, als ihre Schwägerinnen sich versammelten, um ihr zu gratulieren, spürte Sheppard plötzlich einen scharfen Stich des Bedauerns, auf einmal tat Chip ihm leid, und er fürchtete, die Zweifel, die ihn und Marilyn damals geplagt hatten, könnten sich auf seinen Sohn übertragen haben, die kollektive Seelenangst durch Marilyns Bauch auf ihn übergegangen sein.
    Ich muss ihm ein besserer Vater sein, dachte er, als er mit Chip zum Haus der Aherns hinüberlief. Ich habe ihn in vielerlei Hinsicht enttäuscht. War denkbar, dass sich der Junge seiner Abwesenheit immer bewusst gewesen war? Waren die Antennen eines Kindes für Liebe – oder das Fehlen davon – tatsächlich so ausgeprägt? War Chips verzögerte Entwicklung, seine Unfähigkeit, sich die Schuhe zuzubinden oder sein Essen selbst zu zerkleinern, in Wahrheit ein Hilfeschrei? Er und Chip sahen sich so ähnlich, beide waren in der Lage, einen Artillerieangriff zu verschlafen, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. In der Tat schienen sich in Chip vor allem die negativen Eigenschaften seiner Eltern niederzuschlagen. Ihm fehlten der Sportsgeist und das Selbstbewusstsein des Vaters, dafür hatte er die Launenhaftigkeit und Empfindlichkeit seiner Mutter geerbt, ihr mürrisches Wesen. Die Unnahbarkeit des Jungen musste eine Folge der Ereignisse von damals sein, schlussfolgerte Sheppard. Es gab Rettung, dachte er, aber nicht für alle. Er und Marilyn waren gerettet worden, aber Chip hatte einen Preis dafür gezahlt.
    Er trat hinter den Jungen und hob ihn hoch. »Dein Vater hat dich sehr lieb«, flüsterte er.
    Aber Chip wand sich aus seinen Armen, ohne ihn anzusehen, und rannte davon.
    Gott segne Don Ahern. Der Mann wusste wirklich, wie man einen Drink mixt. Ein Martini war unkompliziert zu mischen, aber dieser hier schmeckte irgendwie anders, auf jeden Fall besser. Sie standen auf dem Rasen hinter dem Haus und beobachteten die Boote, die sich vor dem großen Feuerwerk auf dem See sammelten, die Familienverbände, die am Strand zusammenkamen. Der Sohn und die Tochter der Aherns spielten Neckball mit Chip, während Nancy, einen Whisky Sour in der Hand, Marilyn zwischen den Häusern auf halbem Wege entgegenkam. »Ich wette, du hattest einen anstrengenden Tag«, sagte Nancy.
    »Mehr als anstrengend«, antwortete Marilyn mit einem Blick in Sheppards Richtung.
    »Weißt du«, murmelte Ahern, »deine Lady hat immer noch die Figur eines jungen Mädchens.«
    Sie schauten zu, wie die Frauen sich unterhakten und anstießen, und wieder fing Marilyn Sheppards Blick auf. Wäre es möglich, dachte er, dass er immer noch erregt war? Er war körperlich total erschöpft und wusste, er würde heute Abend nicht lange durchhalten, egal, welche Energiereserven er anzuzapfen versuchte. Und dennoch verspürte er Lust, sie wieder und wieder zu nehmen, sich eine Ausrede auszudenken und mit ihr zu verschwinden, nur um die Untiefen seines Glücks auszuloten.
    »Und, Herr Doktor, was haben wir heute an Wundern bewirkt? Haben wir Leben gerettet?«
    »Ehrlich gesagt«, sagte Sheppard, »habe ich heute einen Jungen verloren.«
    Wieder schilderte er das Erlebnis, aber diesmal war er in der Lage zu sprechen, ohne die Bilder vor Augen zu haben. Es war zu einer Geschichte geworden, eingeschlossen in eine Erzählung mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, und in der Version, die er nun Don präsentierte, war der Vater des Jungen nur ein Kleindarsteller und nicht mehr die Hauptfigur, die Sheppard gezwungen hatte, in panischer Angst und schuldbewusst aus der Klinik zu fliehen. Er war tatsächlich ein Mörder, aber nicht den Jungen hatte er ermordet, sondern die Tage mit Marilyn. Schlimmer noch, bis zum heutigen Tag war er auf derartige Engel angewiesen, die in seinem Leben erschienen und ihm seinen eigenen Charakter vor Augen führten, der traurig und jämmerlich war und in erster Linie gierig. Wäre der Junge nicht gestorben und hätte der Vater Sheppard nicht

Weitere Kostenlose Bücher