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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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beim Singen perfekt den Ton. Vom Balkon aus konnte David sehen, wie der Songschreiber in dem Apartment zu seiner Linken ein paar Takte spielte und sich schließlich Notizen mit einem Bleistift machte, der hinter seinem Ohr steckte, dieweil der alte Mann, der neben dem Komponisten stand – sein Co-Komponist vielleicht –, lobend nickte und die Uhr auf dem Kaminsims aufzog. Auch David nickte. Das Lied war eine flammende Liebeserklärung an die Freiheit! Er selbst fühlte sich wieder jung und frei, erfüllt von einer tiefen Verwunderung über diesen Moment – über die Aussicht beispielsweise, über die neu gefundene Gespielin, eigentlich über sein ganzes Leben! Er fühlte sich zu bemerkenswerten, unerhörten Taten fähig, während Knochen – Oberarm, Elle, Speiche, Mittelhand – aus seinen Schultern wuchsen und seine neuen Flügel sich in der strahlenden Sonne ausbreiteten. War das die neue Welt, von der Alice gesprochen hatte? Der neue Zustand? Oder hatten sich sein Körper und Geist nur deshalb verwandelt, weil sie verschwunden war?
    An jenem Abend kam Alice nicht nach Hause. Am nächsten auch nicht, genauso wenig wie an den folgenden – Abende, aus denen schnell eine Woche wurde und dann zwei. Zunächst war David über die Abwesenheit seiner Frau wenig betrübt, auch wenn er aus reiner Gewohnheit stets ihren Namen rief, wenn er nach Hause kam. Diese Einsamkeit war ein Novum, außerdem hatte er plötzlich das ganze Apartment für sich allein. Er konnte Essen heraufbestellen und brauchte den Müll nicht hinunterzutragen. Er konnte zu sich nehmen, was er wollte, und spontan jeden Film schauen. Im Gegenzug hatte ihre Fahnenflucht zur Folge, dass er Alice erst recht intensiv wahrnahm. Ein Tauziehen zwischen vollkommen gleichwertigen Gegnern, ein Patt, das sich erst auflösen würde, wenn eine Seite erschöpft aufgab – und das zu tun hatte David nicht vor. Er würde es aussitzen. Er würde durchhalten. Er würde hier sein, wenn sie zurückkam. Und sie würde zurückkommen.
    Aus zwei Wochen wurde ein Monat – inzwischen war es Oktober – und dann zwei Monate. Um sich die Zeit zu vertreiben, lenkte David sich mit Georgine ab, aber es war seltsam. Während die Zeit ins Land ging, sah er sich gezwungen, vorzugeben, Alice könnte jeden Augenblick zur Tür hereinkommen, damit ihre Verabredungen aufregend blieben. Klingelte das Telefon im Büro, während Georgine ihm einen blies, musste er sich einreden, Alice riefe vom Empfang aus an. Klingelte sein Handy, wenn er und Georgine im Hotel waren, ließ er sie das Gespräch annehmen, während er in ihr war. »Der steht gerade hinter mir«, sagte Georgine und reichte ihm das Handy. Wenn sie zusammen durch die Straße gingen und er eine Frau entdeckte, die wie Alice aussah, ergriff er Georgines Hand und ging schneller, um dicht genug heranzukommen und sich selbst zu überzeugen.
    Eines Abends – vier, vielleicht fünf Monate waren vergangen, es war inzwischen Januar – überredete er Georgine sogar, mit in sein Apartment zu kommen. Seine Frau, sagte er, werde sehr spät nach Hause kommen, was nicht einmal gelogen war. Es sei, wie er vor der Wohnungstür zugab, recht riskant, aber er wolle unbedingt in seinem Ehebett mit ihr schlafen. Nie in seinem Leben war er geiler gewesen. Als sie eintraten, rief er Alice’ Namen.
    »Mein Gott«, flüsterte Georgine, »ist sie hier?«
    »Keine Ahnung«, sagte er und musste ein Lachen unterdrücken. Weil er nicht sicher sein konnte, dass sie allein waren, bat er Georgine leise herein und ließ die Wohnungstür absichtlich offen stehen. Um die Stimmung aufzulockern, schaltete er die Stereoanlage ein und drehte die Lautstärke so weit auf, dass er Alice, sollte sie überraschenderweise hereinkommen, nicht hören würde. Obwohl Georgine protestierte, ließ er die Schlafzimmertür sperrangelweit offen stehen, auch als sie sich auszogen. Dann fesselte er Georgine mit komplizierten Knoten, die nicht ohne Weiteres zu lösen wären, an die Bettpfosten, wozu er zwei Krawatten benutzte, die Alice ihm irgendwann zum Geburtstag geschenkt hatte. Krawatten, dachte er, als er seine Hose hinunterrutschen ließ, wann zum Teufel trage ich eine Krawatte?
    »Und du bist sicher, dass sie nicht auftauchen wird?«, fragte Georgine. Ihre Angst war echt.
    »Nein«, sagte er, selbst erschreckt. »Eigentlich nicht.« Und dann liebte er Georgine so ungestüm und leidenschaftlich, als schaue Alice ihnen zu.
    Wohin war Alice verschwunden?
    Zugegeben, dachte er, als

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