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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Ross
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aus fünf Monaten sechs und sieben wurden und aus dem Winter ein Frühling, er war ihr untreu geworden und sollte die Sache mit Georgine unverzüglich beenden. Zugegeben, er und Alice hatten in einer Sackgasse gesteckt, einer Krise, einer Vorhölle oder irgendeinem anderen, schrecklichen Zustand. Aber langsam war die Nummer, die sie da abzog, nicht mehr lustig! Niemals waren sie für so lange Zeit getrennt gewesen, und obwohl er seine Frau kein bisschen vermisste und immer noch sehr, sehr froh darüber war, dass sie sich für diese Pause oder Auszeit entschieden hatte, ärgerte ihn an ihrem kleinen Ferienexperiment, an ihrem Selbsterkundungsausflug, dass er nicht wusste, was er mit der ganzen, gottverdammten Zeit anfangen sollte!
    Natürlich wäre die Gelegenheit perfekt, um etwas zu schreiben, so viel hatte er begriffen, und Anfang Mai, im neunten Monat, nahm er endlich sein Manuskript aus dem Karton und las es durch bis an die Stelle, an der er sich festgefahren hatte. Ein ums andere Mal überflog er die Seiten, nur um wieder in derselben Klemme zu landen. Mitten in einem Roman zu stecken war, als hätte man sich in einem Wollknäuel verheddert. Zu schreiben unterschied sich sehr vom Programmieren eines Videospiels. Ein Spieler konnte sich für unzählige Handlungsvarianten entscheiden, wogegen die Anzahl der Codes, obschon ungeheuer groß, endlich war. Man produzierte eine Art Aufziehspielzeug, dessen Bewegungen man dann verfolgen konnte. Hatte man sich jedoch in die Mitte eines Romanes hineingeschrieben, bekam man den Eindruck, die Geschichte könne für alle Zeiten unkontrolliert weiterwuchern. David starrte auf die Seite, zögerte, starrte weiter. Es war jetzt so friedlich, so perfekt in der stillen Wohnung, aber nun, da Alice fehlte, war sein Konzentrationsvermögen dahin, seine Vorstellungskraft erloschen. Es war, als hätte das Buch plötzlich seine Bedeutung verloren und keine Existenzberechtigung mehr. Er saß am Küchentisch und starrte so lange auf ein Blatt, bis es verschwand, und seine Gedanken wanderten zu jener letzten Unterhaltung zurück und zu dem Vorschlag seiner Frau, wie in einem Experiment zu leben. Zweck ohne Methode, hatte sie gesagt. Er wusste nicht genau, was sie damit gemeint hatte, aber er verstand, dass auch das Schreiben ein Vorgang zu einem Zweck war, aber ohne Methode. Man fühlte sich von einer Art Auflösung oder Ende angezogen, aber eigentlich hatte man keine Vorstellung davon, wie man ans Ziel gelangen sollte. Und das Leben war genauso. Oh, die Psychologen und Philosophen, die Politiker und Pfarrer zeigten Pfade auf, aber warum war ein Mensch trotz der vielen Ratschläge nur selten überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben? Ohne fürchten zu müssen, die anderen wüssten etwas, das man selbst nicht wusste? Wären an einer großen Sache dran? Auf der richtigen Straße unterwegs, während man selbst dem Vergessen entgegenraste? War es das, was Alice vorhatte? War es das, was sie ihm zeigen wollte? Dass es ihnen möglich war, mit geringem Kraftaufwand vom vorgezeichneten Weg abzuweichen, getrennt oder zusammen? Hatten sie, als sie zusammen waren, dieses Wissen voreinander verborgen? War dies die Gelegenheit, den zukünftigen Kurs zu korrigieren? War ihr Verschwinden am Ende keine Fahnenflucht, sondern ein Geschenk?
    Vielleicht sollte ich mich auf ihre Idee einlassen, dachte er, und dann fragte er sich, was ihn zurückhielt.
    Sein Buch. Das unvollendete Buch fraß sein Leben auf.
    Er wollte es beenden, wusste aber nicht, wie. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie die Geschichte enden würde. Schmeiß es weg, hatte Alice gesagt; verbrenn es. Aber diese Niederlage, wenn er das Buch nicht fertig bekam, würde ein Leben lang an ihm nagen. Das hätte selbst Alice wissen können. David erinnerte sich an einen Satz, den Alice nach ihrer dritten Fehlgeburt im Krankenhaus gesagt hatte – dass sie vermutlich nie in der Lage sein würde, ein Kind auszutragen. »An meiner Innenseite bleibt nichts haften«, hatte sie zum Arzt gesagt und geweint. Wie sie David später erzählte, war das Schlimmste für sie nicht die Kinderlosigkeit. Nein, es war das ständige Nachdenken über die Kinder, die sie nicht bekommen konnte. »Ich muss die ganze Zeit an die kleinen Erdnüsse denken«, sagte sie.
    Er musste das Buch unbedingt beenden und abhaken. Sobald er es abgehakt hätte, würde sich ihm eine völlig neue Welt eröffnen: eine Welt ohne das Buch.
    Er musste es beenden, wusste aber nicht,

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