Misterioso
...«
Sie begannen, Richards’ unglaublich chaotische Wohnung zu durchsuchen, und stießen dabei auf die erstaunlichsten Gegenstände: den getrockneten Kopf einer Boa, der in Hjelms Händen zu Staub zerbröselte, Schmutzwäsche, einen Schuhkarton voller Zlotyscheine, weitere Schmutzwäsche, antiquierte finnische Pornozeitschriften mit schwarzen Balken vor den Geschlechtsteilen, noch mehr Schmutzwäsche, ein paar antike Wurfmesser aus Botswana, unglaubliche Mengen an Schmutzwäsche, dreizehn verstreute ungespülte Guinness-Gläser, eine LP ohne Hülle, dafür aber mit Bill Evans’ Autogramm quer über die Rillung, und Kneipenrechnungen ohne Ende.
»Warum bewahrst du die Kneipenrechnungen auf?« fragte Chavez und zog das gelbe Notizbuch zwischen ein paar unappetitlich zerfransten Unterhosen hervor.
»Wegen der Steuer«, sagte White Jim und ließ Jack Daniels durch seine Kehle rinnen.
Chavez schrieb die Namen und Adressen auf eine Kneipenrechnung und gab das Notizbuch White Jim zurück, der es in eine Ecke pfefferte, rülpste und im Sitzen einnickte. Gemeinsam legten Chavez und Holm den kreideweißen Körper auf die Matratze und deckten ihn zu.
»Das«, sagte Jorge, als sie in die Sonne hinaustraten, »ist ein wirklich großer Musiker.«
Kerstin Holm nickte.
Hjelm wusste nicht, was er denken sollte.
Chavez kehrte nur widerstrebend ins Polizeipräsidium zurück. Hjelm setzte Holm bei einer von White Jim erwähnten Stockholmer Adressen ab und fuhr selbst weiter zu der abgelegeneren.
Kerstin Holms Adressat war der pensionierte Major Erik Radholm in der Linnegatan, ein distinguierter älterer Herr, dessen Passion für originelle Jazzaufnahmen ebenso gewaltig wie überraschend war. Er sah aus, wie Holm es später beschrieb, wie ein wahrer Sousa-Bewunderer, also wie einer, für den Rhythmus gleichbedeutend mit Takt ist. Er besaß eine umfangreiche Sammlung von Raubkopien aus den obskursten Klubs von Kardien bis ins Innere Ghanas. Zunächst wollte er nichts einräumen, das in irgendeiner Weise als ungesetzlich hätte ausgelegt werden können, aber mit einer Methode, die Holm perfekt beherrschte, kriegte sie ihn schließlich so weit, dass er ihr nicht ohne Stolz seine beeindruckende, hinter einer schwenkbaren Regalwand verborgene Kollektion zeigte. Er schwor bei »der Ehre seines Vaterlandes«, dass es ihm niemals in den Sinn käme, auch nur eine einzige seiner einzigartigen Aufnahmen zu kopieren. Danach hörte Kerstin Holm sich Major Radholms Exemplar von Jim Barth Richards’ Risky- Aufnahme an. Zwei Stunden später, nachdem er ihr noch Live-Aufnahmen von Lester Young in Salzburg und Kenny Clarke im Stadthotel von Hudiksvall vorgespielt hatte, verabschiedete sie sich.
Paul Hjelm fuhr weiter nach Märsta und stattete dem schwerbehinderten Roger Palmberg einen Besuch ab. Palmberg war vor Jahren von einem Zug überrollt worden, nicht ganz unfreiwillig, wie er durch seinen elektronischen Sprechapparat mitteilte. Das einzig Intakte an dem Mann war sein Gehör, und das war dafür um so schärfer. Sie hörten sich White Jims Risky-Aufnahme an, und Roger Palmberg erklärte Hjelm jeden Ton, was passierte und wann es passierte und warum. Hjelm hörte gebannt zu. In dem zermalmten Körper steckte der subtilste Zuhörer, dem er jemals begegnet war, nicht nur, wenn es um Musik ging, sondern ganz allgemein. Allein durch seine Aufmerksamkeit brachte er Hjelm dazu, ihm den ganzen Fall zu schildern. Palmberg fand die Kassette als Anhaltspunkt sehr interessant, schwor aber, dass er unschuldig sei. Im Gegenzug versprach Hjelm ihm, dass er ihn informieren werde, sobald der Fall gelöst sei. Palmberg versicherte, dass bisher außer ihm noch niemand seine Aufnahme gehört habe, und räumte unumwunden ein, dass das daran lag, dass ihn nie jemand besuchte. Er war ein absolut einsamer Mensch, der sein Leben dementsprechend eingerichtet hatte. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt der Musik. Sie hörten sich ein paar Aufnahmen mit Jim Barth Richards an, die Ende der Sechziger entstanden waren, und allmählich ging Hjelm auf, wem sie da in der heruntergekommenen Einzimmerwohnung in der Altstadt einen Besuch abgestattet hatten. Als er sich schließlich von Roger Palmberg verabschiedete, hatte er das Gefühl, auf der anderen Seite Stockholms einen guten Freund gewonnen zu haben.
22
Paul Hjelm zog das Tempo bewusst an, als er erst einmal Witterung aufgenommen hatte. Keine Zeit, vor dem Spiegel zu stehen und zu prüfen, wie groß der
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