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Mit 80 000 Fragen um die Welt

Mit 80 000 Fragen um die Welt

Titel: Mit 80 000 Fragen um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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bot Henry Ford den Leuten fünf Dollar die Stunde, und alle Welt kam hierher, um zu arbeiten. Sie kauften sich Häuser, einen Zweitwagen und ein Boot auf dem Lake Erie.»
    Heute kommt die Welt nicht mehr nach Detroit. Die Fabriken sind weitergezogen: erst in die Low-Cost-Gebiete im Süden   – Alabama, Tennessee. Dann nach Südamerika und Asien. «Detroit ist zwar immer noch das Zentrum für Design und Marketing, aber was die Autoproduktion angeht, nur noch ein Schatten seiner selbst.»
    «Und ist Amerika auch nur noch ein Schatten seiner selbst?»
    «Na ja, das 20.   Jahrhundert war das Jahrhundert der USA. Die Frage ist: Wie richtet sich Amerika auf das neue Jahrhundert ein?»
    Detroit, das ehemalige Symbol des amerikanischen Wohlstands, ist heute das internationale Symbol wirtschaftlichen Niedergangs. Es klingt absurd, aber hier fühle ich mich wohl. Kein Fanatismus, kein aufgesetztes Lächeln. Motor City ist frei von Silikon und oberflächlichem Gehabe. Amerikaner würden es vielleicht «down to earth» nennen.
    Durch die Ruinen weht ein Blues, in den die ganze Stadt mit einstimmt. Du kannst ihn hören, er pfeift durch jedeRitze und jedes Loch, das die Eichhörnchen in den sterbenden Vierteln der Autostadt hinterlassen. Und wenn du dir etwas Zeit nimmst und genau hinsiehst, entdeckst du die Schönheit in dem Verfall. Efeu wächst über die alten Holzhäuser, Gras durchbricht den Zement, und in den Sträuchern hinter dem verlassenen Supermarkt nisten Fasane. Detroit ist nicht nur die Stadt der Gangster, Junkies und Pornoproduzenten. Es ist auch ein Ort für Künstler, Fotographen und Philosophen.
    Grace Lee Boggs ist mehr als eine Philosophin. Sie ist ein Orakel. Mrs.   Boggs hat ihr halbes Leben in Detroit verbracht, und das will was heißen: Sie ist fast einhundert Jahre alt. Grace empfängt uns in ihrem kleinen Wohnhaus. Ganz allein.
    «Wovor sollte ich denn Angst haben?»
    Die alte Dame bittet uns in ihr Wohnzimmer. Ein Raummit grünen Wänden und rotem Teppich, vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften. Wir sinken in ein Sofa mit gehäkeltem Überzug, den Couchtisch hat Grace mit Postit-Zetteln beklebt. Mrs.   Boggs ist mindestens genauso klein wie Wilma Brunkhorst und mindestens genauso fröhlich. Sie hat lustige asiatische Gesichtszüge und trägt einen weißen Pagenkopf, ihre Eltern waren Einwanderer aus China. Grace hat sich in Detroit engagiert: für die Rechte der Einwanderer, für die Rechte der Frauen, für die Rechte der Schwarzen. Sie hat einen Haufen Bücher geschrieben und einen viel größeren Haufen Preise dafür gewonnen. Seit Jahrzehnten wird sie für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, aber das scheint noch lange nicht vollendet. Sie schreibt, sie nimmt an Podiumsdiskussionen teil, sie debattiert mit jungen Leuten, die sie in ihr Haus einlädt. Mrs.   Boggs ist nicht nur eine Legende, sie ist die pure Weisheit.

    «Erzählen Sie mir von den guten alten Zeiten.»
    «Ich weiß nicht, ob das gute Zeiten waren. Es waren materialistische Zeiten. Die Leute in Detroit waren nur am Geld interessiert und haben vergessen, Mensch zu sein. Und Amerika hat sich zu sehr damit beschäftigt, eine Supermacht durch Größe, Dominanz und Wirtschaftskraft zu werden. Doch die beste Supermacht zeigt der Welt ein menschliches Gesicht und überzeugt durch Nächstenliebe.»
    Grace Lee Boggs lächelt und erwartet meine nächste Frage. Vielleicht sollte sie meinen Job machen – es scheint so, als ob Mrs.   Boggs jede Antwort auf meine 80   000   Rätsel schon kennt.
    «Was wird denn nun aus Detroit, Mrs.   Boggs?»
    «Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, vergleichbar mit dem Übergang vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft vor elftausend Jahren und von der Landwirtschaftzur Industrialisierung vor zweihundert Jahren. Das ist eine große Chance!»
    «Eine Chance?»
    Sie lächelt. «Ja, warum denn nicht? Du denkst, das hier ist das Ende der Welt – ist es aber nicht. Die Industrie hat uns Unfrieden, Gift und Krankheiten gebracht. Jetzt sollten wir wieder anfangen, mit unseren Händen zu arbeiten. Wir können das Land zurück in die Stadt bringen.»
    Bald wird mir klar, was die alte Dame damit gemeint haben könnte. Auf einer grünen Wiese, etwa eine halbe Meile von den Wolkenkratzern in Downtown entfernt, treffe ich John Hantz, einen Mann in Anzug und Krawatte.
    «Wollen Sie wirklich mitten in der Stadt Ackerbau betreiben?»
    «Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist möglich. Hier war mal eine Wiese,

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