Mit 80 000 Fragen um die Welt
hoch?»
«Das liegt an ihrer hohen Arbeitslosenquote. Man schätzt, dass etwa jeder fünfte Aborigine keinen Job hat. Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen, Gewalt – es ist der übliche Teufelskreis.»
«Kann man den nicht brechen?»
«Den müssen wir brechen. Aber viele Aborigines misstrauen unseren Uniformen. In ihren Augen sind wir Kolonialherren, die sich sofort auf dich stürzen, wenn du irgendetwas Falsches sagst oder tust.»
«Ist das nicht traurig?»
«Ja, natürlich.»
Deputy Owens ist vielleicht der netteste Polizist, denich je getroffen habe. Wir verharren noch ein paar traurige Minuten vor seiner Pressewand und schweigen. Vielleicht gibt es ja einen guten Grund dafür, warum die Aborigines weißen Leuten in Uniform misstrauen.
Ich möchte tiefer recherchieren, sozusagen ganz tief Down Under, und fahre mit der U-Bahn in einen Außenbezirk von Sydney. Nach einer Stunde auf Schienen schrumpfen die Häuser, die Farbe an den Fassaden blättert ab, und der Himmel scheint nicht mehr so blau zu sein wie über dem Opera House und der Harbour Bridge. Bin ich in Hannover? Alles ist grau, und auch die krausen Haare von Debbie Hocking haben silberne Strähnen, dabei ist sie keine alte Frau. Debbies Lockenkopf ist der einzige Hinweis auf ihre Herkunft. «Ich werde oft gefragt, warum ich so aussehe. Und dann antworte ich immer: Das ist Kolonialisierung. Das ist nicht meine Schuld.»
Debbies Haut ist weiß. Schneeweiß. Sie könnte Engländerin sein. Oder Deutsche. Aber Debbie ist Aborigine. Wer sie nicht kennt, ist davon überrascht. Und Debbie selbst war es am meisten, als sie mit zwanzig Jahren herausfand, dass sie zu den Ureinwohnern des Landes gehört. Niemand hatte es ihr gesagt. Niemand wollte, dass sie es erfährt.
Bis Ende der Sechziger hat sich Australien nicht dafür geschämt, Aborigines wie Wilde zu behandeln. Dabei waren den Behörden auch Verbrechermethoden recht. Zum Beispiel Kidnapping. Debbie gehört zur sogenannten Stolen Generation. Sie ist eines von 35 000 Kindern, die der Staat gewaltsam den Aborigine-Familien entriss und in Pflegeheime, Missionen oder weiße Familien steckte. Ganz besonders gerne Mischlingskinder, so wie Debbie. Man wollte aus den kraushaarigen Mädchen und Jungs hübsche,weiße, christliche Australier machen. Je heller die Haut, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörden eines Tages vor der Tür standen.
«Ich war erst achtzehn Monate alt, und sie haben mich einfach genommen. Ohne Kleidung. Ohne Sachen. Und meine Eltern konnten nichts tun. Sie standen da und mussten zusehen, wie jemand ihr Kind entführt.»
Debbie hat fünfzehn Jahre in einer weißen Pflegefamilie verbracht. Keiner hat ihr gesagt, wer ihre leiblichen Eltern sind. Oder dass sie Geschwister hat. Ihre Kindheit passt in ein Regal, es sieht aus wie ein Altar: ein Teddybär, ein Windspiel, zwei schwarzweiße Kinderfotos. Das war’s. Auf den Bildern fährt sie Karussell. Und lächelt.
«Wie war Ihre Kindheit?»
«Was soll ich sagen, sie war traumatisch. Ich habe meine Unschuld mit fünf an meinen Pflegevater verloren, und er missbrauchte mich immer wieder, zehn Jahre lang. Das war mein Leben, ich kannte nichts anderes. Ich habe es einfach über mich ergehen lassen und gehofft, dass es irgendwann besser wird.»
Aber es wurde nicht besser. Mit fünfzehn Jahren lief Debbie weg. Mit zwanzig fand sie ihre leibliche Mutter ein paar Blocks weiter in der Nachbarschaft. Sie hatte die ganze Zeit nur zehn Minuten entfernt von ihrer Familie gewohnt. Doch Debbie trifft ihre Mutter nur ein einziges Mal, zwei Wochen später stirbt die Frau an Krebs. Ich schweige, und es geschieht etwas Paradoxes. Debbie nimmt meine Hand und tröstet mich. «Es wird alles wieder gut», sagt sie.
Übrigens: Die Leute, die ihr all das angetan haben, sind nie bestraft worden. Vor ein paar Jahren bekam Debbie ein «compensation payment», ein lächerliches Entschädigungsgeld. Das hat sie beleidigt.
«Würden Sie sagen, dass manche Australier immer noch Verbrecher sind?»
«Ganz sicher. Viele haben nach wie vor kriminelle Absichten. Das mag verbittert klingen, aber das ist nun mal die Herkunft einiger Australier. Es ist so tief in ihnen verankert, dass es für sie ganz normal ist. Und diese Kultur wird in Australien weithin akzeptiert.»
«Kriminelle Kultur?»
«Ja. Australier nehmen viele Dinge einfach hin, die in anderen Ländern verboten sind. Zum Beispiel unser Justizsystem: Es schützt nicht das Opfer, es schützt
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