Mit anderen Augen (German Edition)
Michelle.“
Sie nickt und ich lasse sie zurück. Es liegt an ihr, ob sie Hilfe rufen oder einfach auf den Tod warten will. Ich weiß, wofür ich mich in ihrer Situation entscheiden würde, aber jeder von uns ist anders. Nicht, dass es bei ihren Verletzungen noch einen Unterschied macht. Es geht nur darum, eine Wahl zu haben.
Auf dem Rückweg zu Jannik halte ich an einem kleinen Drugstore, um Schmerzmittel und steriles Verbandszeug zu kaufen. Ich muss den Streifschuss behandeln und wahrscheinlich auch nähen. Das wird eine unschöne Angelegenheit. Hoffentlich kippt Jannik nicht um. Ich habe nicht vergessen, dass er kein Blut sehen kann. Andererseits ist es Zeit, dass er lernt, damit umzugehen. Verletzungen gehören für mich zum Alltag und dieser Streifschuss wird sich zu den anderen Narben auf meinem Körper gesellen. Es wird nicht die letzte Verletzung für mich sein.
Jannik öffnet erst nach dem dritten Klopfen, wie wir es ausgemacht hatten. Sein Blick wandert an mir herunter. „Geht's dir gut?“ Er stutzt. „Scheiße, ist das Blut?“
Statt zu antworten, gebe ich ihm den Rucksack und gehe durch bis in die Küchenzeile, die zum Hotelzimmer gehört, um die Tüte auf dem Küchentisch auszuleeren, die ich vom Drugstore habe. Ich höre Jannik hinter mir fluchen, als er die Tür zuwirft und werfe einen Blick in seine Richtung. Er mustert gerade den Inhalt vom Rucksack.
„Hundert Riesen, bevor du fragst.“
Er sieht erstaunt auf. „Einhunderttausend Dollar? Meine Fresse. Was sind das für Waffen?“
„Willst du das wirklich wissen?“
„Eigentlich nicht“, gibt er leise zu und runzelt die Stirn.
„Dann frag' nicht danach.“
Jannik seufzt, schließt den Rucksack und legt ihn aufs Bett, bevor er sich zu mir gesellt und angewidert das Gesicht verzieht. „Oh je.“
Ich weiß, ich sollte es nicht lustig finden, dass er den Anblick von Blut kaum ertragen kann, aber ich bin trotzdem amüsiert, was Jannik mir ansieht.
„Das ist überhaupt nicht komisch“, murrt er und weicht zurück, als ich vorsichtig meinen Pullover ausziehe. Das langärmlige Unterhemd ist vollgesogen mit meinem Blut. Ich lasse die erste Überlegung fallen, das Unterhemd auszuziehen und greife stattdessen nach dem Messer, um es über der Wunde aufzuschneiden. „Ich glaub', ich muss kotzen“, murmelt Jannik und schlägt sich eine Hand vor den Mund.
„Du weißt, wo das Klo ist“, konterte ich trocken, weil ich vermeiden will, dass er mir umkippt, und werde dafür mit einem finsteren Blick bedacht.
„Arsch.“
Damit erzählt er mir nichts Neues. Schulterzuckend ziehe ich einen Stuhl zurück und setze mich vorsichtig hin. Jetzt kommt der unschöne Teil. Das oberste Stück Klebeband ist kein Problem, die beiden direkt auf der Wunde sind es allerdings. Ich muss mehrmals tief einatmen, weil das Klebeband sich nur schwer lösen lässt. Schmerzen kenne ich, aber ich bin kein Masochist. Es tut höllisch weh, weil das Klebeband an den Wundrändern hängt und sie mitzieht, was das Ganze noch schwieriger macht.
Als ich endlich fertig bin, macht Jannik der weiß gestrichenen Wand des Zimmers Konkurrenz. Ich muss mich zusammenreißen, ihn nicht auszulachen, vor allem, da ich besser die Wunde nähen sollte, anstatt Jannik anzusehen und mich dabei zu fragen, wie lange es noch dauert, bis er ohnmächtig wird. Das desinfizieren hält er aus, aber als ich die Nadel und den Faden in die Hand nehme, verzieht er so angeekelt sein Gesicht, dass ich Mitleid bekomme. Ich deute zum Bett.
„Geh' endlich, bevor du umkippst.“
„Es geht schon. Ich helfe dir“, wehrt Jannik störrisch ab und ich muss schmunzeln.
„Wie? Indem du zusammenklappst und dir beim Sturz vermutlich noch den Kopf anschlägst?“
„Möglicherweise“, gibt er zu und da muss ich dann doch lachen, was Jannik zum Seufzen bringt, bevor er mir den Rücken zudreht. „Schon gut. Aber du sagst Bescheid, wenn du etwas brauchst.“
Kopfschüttelnd und amüsiert zugleich mache ich mich daran, die Wunde zu nähen. Es zieht und brennt heftig, aber es ist auszuhalten. Ich war schon weitaus schlimmer verletzt. In einigen Tagen ziehe ich die Fäden und das war's. Allerdings sollte ich in den nächsten zwei bis drei Wochen eine weitere Prügelei vermeiden. Ich will weder riskieren, dass die Wunde aufreißt, noch dass sie sich entzündet. Dann hätte ich nämlich wirklich ein Problem.
Fünf Minuten später ist alles vorbei und ich wische das Blut weg, bevor ich erneut nach dem
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