Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Unterernährung brachte Haarausfall mit sich. Olive hatte zu weinen aufgehört und sagte: »Bist du zu jung, um zu wissen, wer Winston Churchill war?«
»Ich weiß, wer Winston Churchill war«, sagte das Mädchen müde.
»Also, Churchill hat gesagt, man darf nie, nie, nie aufgeben.«
»Dieser Fettsack«, sagte das Mädchen, »was wusste der denn schon.« Worauf sie hinzufügte: »Das soll nicht heißen, dass ich aufgeben will.«
»Natürlich nicht«, sagte Olive. »Aber dein Körper wird aufgeben, wenn er nicht ein bisschen mehr Treibstoff bekommt. Ich weiß, das hast du alles schon mal gehört, also lieg einfach ganz ruhig und antworte gar nicht. Oder doch, sag mir eins: Hasst du deine Mutter?«
»Nein«, sagte Nina. »Ich meine, ich finde sie oft ziemlich armselig, aber hassen tue ich sie nicht.«
»Also gut«, sagte Olive, und ein Schauder lief durch ihren schweren Körper. »Also gut. Immerhin ein Anfang.«
Was folgte, sollte sich in Harmons Erinnerung immer mit dem Tag verbinden, als der Kugelblitz zum Fenster hereingefahren und im Kreis gesurrt war. Denn die Luft knisterte von einer Art warmer Elektrizität, einer ganz eigenen Stimmung, die nicht recht von dieser Welt schien, als das Mädchen zu weinen anfing und Daisy schließlich die Mutter anrufen durfte, die Nina noch am Nachmittag abholen wollte und ihr versprach, dass sie in keine Klinik musste. Als Harmon mit Olive aufbrach, lag das Mädchen in eine Decke gewickelt auf der Couch. Harmon half Olive Kitteridge in ihren Wagen, und dann ging er zurück zum Clubhaus und fuhr heim und wusste schon da, dass etwas in ihm sich verändert hatte. Bonnie sagte er nichts davon.
»Hast du an meinen Doughnut gedacht?«, fragte sie.
»Sie hatten nur Zimt«, sagte er. »Hat einer von den Jungs angerufen?«
Bonnie schüttelte den Kopf.
Ab einem gewissen Alter stellte man sich auf gewisse Sachen ein. Man begann an einen Herzinfarkt zu denken, an Krebs, an den Husten, aus dem eine todbringende Lungenentzündung wird. Man wartete sogar auf eine Art Midlife Crisis - doch nichts davon hatte ihn auf das Gefühl vorbereitet, das er jetzt hatte, dieses Gefühl, als wäre er in eine durchsichtige Blase eingekapselt, die vom Boden abhob und so heftig hin und her geweht und geworfen und geschüttelt wurde, dass er nie mehr zurückfinden konnte zu den harmlosen Freuden seines bisherigen Daseins. Alles in ihm wehrte sich gegen das, was da mit ihm geschah. Dennoch, seit diesem Vormittag
bei Daisy, als Nina in Tränen ausgebrochen war und Daisy zum Hörer gegriffen und dafür gesorgt hatte, dass die Eltern kamen und sie abholten … seit diesem Vormittag bei Daisy ließ Bonnies Anblick sein Herz kalt.
Das Haus kam ihm vor wie eine klamme, unbeleuchtete Höhle. Ihm fiel auf, dass Bonnie ihn nie fragte, was im Laden losgewesen war; vielleicht war das nach all den Jahren ja auch unnötig. Ungewollt begann er Listen zu führen. Eine ganze Woche konnte verstreichen, und die persönlichste Frage, die sie an ihn richtete, war, ob er sich schon »irgendwelche Gedanken übers Abendessen« gemacht hatte.
Eines Abends sagte er: »Bonnie, weißt du eigentlich, was mein Lieblingslied ist?«
Sie las und schaute nicht auf. »Was?«
»Ich habe gesagt, weißt du, was mein Lieblingslied ist?«
Jetzt sah sie ihn über die Brille hinweg an. »Und ich habe gesagt, was? Was ist dein Lieblingslied?«
»Also weißt du es nicht.«
Sie legte die Brille in den Schoß. »Müsste ich das? Ist das hier ein Quiz?«
»Deins weiß ich: ›Some Enchanted Evening‹.«
»Ist das mein Lieblingslied? Wenn du meinst.«
»Stimmt es denn nicht?«
Bonnie zuckte die Achseln, setzte die Brille wieder auf, sah in ihr Buch. »›I’m Always Chasing Rainbows‹. Nach meinem letzten Kenntnisstand ist das deines.«
Von wann mochte ihr letzter Kenntnisstand herrühren? An das Lied erinnerte er sich kaum. Er wollte schon sagen, nein, es ist »Fools Rush In«. Aber sie blätterte ihre Seite um, und er schwieg.
Sonntags besuchte er Daisy und saß mit ihr auf der Couch. Sie redeten oft von Nina. Sie war in einem Zentrum für Essstörungen, und daneben machte sie eine private Psychotherapie
sowie eine Familientherapie. Daisy hielt telefonisch Verbindung zu ihr und sprach auch häufig mit der Mutter. Wenn sie all dies beredeten, kam es Harmon manchmal so vor, als wäre Nina ihr Kind, seines und Daisys, so sehr beschäftigte ihr Wohlergehen sie beide. Wenn sie zugenommen hatte, brachen sie einen Doughnut in zwei
Weitere Kostenlose Bücher