Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Hälften und stießen damit an. »Auf Doughnut-Brecher«, sagte Harmon. »Auf Muffin-Luke.«
In der Stadt begegneten ihm auf Schritt und Tritt Pärchen, Arm in Arm, innig, vertraut; er meinte auf ihren Gesichtern ein Licht leuchten zu sehen, und es war das Licht der Lebendigkeit, diese Leute lebten . Wie lange hatte er noch zu leben? Theoretisch konnten es noch zwanzig Jahre sein, sogar dreißig, aber er bezweifelte es. Und wozu auch, es sei denn, er blieb völlig gesund? Er brauchte nur an Wayne Roote zu denken, gerade mal ein paar Jährchen älter als er, und seine Frau musste einen Zettel an den Fernseher kleben, auf dem stand, welcher Tag es war. Cliff Mott mit seinen verstopften Arterien - eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment detonieren konnte. Harry Coombs hatte einen steifen Hals gehabt, und am Ende des Jahres war er tot gewesen: Lymphom.
»Was machst du an Thanksgiving?«, fragte Harmon Daisy.
»Ich fahre zu meiner Schwester. Das wird bestimmt nett. Und du? Kommen alle eure Söhne?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen drei Stunden fahren und bei Kevins Schwiegereltern feiern.« Wie sich herausstellte, kam Derrick nicht, er fuhr lieber zu seiner Freundin. Die anderen Jungs waren da, aber es war nicht wie zu Hause, und sie zu sehen war eher, als besuchte man irgendwelche Verwandte, nicht Söhne.
»Weihnachten wird sicher besser«, versprach Daisy. Sie zeigte ihm ein Geschenk, das sie Nina schicken wollte - ein Kissen, auf das mit Kreuzstich gestickt war: ICH WERDE
GELIEBT. »Vielleicht tut es ihr ja gut, das manchmal zu lesen, meinst du nicht?«
»Das ist nett«, sagte Harmon.
»Ich hab mit Olive gesprochen, und ich schreibe die Karte im Namen von uns allen dreien.«
»Das ist sehr nett, Daisy.«
Er fragte Bonnie, ob sie zu Weihnachten vielleicht Popcornbälle machen wollte. »Ganz sicher nicht«, sagte Bonnie. »Wenn deine Mutter die früher gemacht hat, dachte ich immer, mir bleiben alle Zähne drin stecken.« Aus irgendeinem Grund brachte ihn das zum Lachen, diese langjährige Vertrautheit ihrer Stimme - und als sie mitlachte, spürte er Liebe und Wohlbehagen und Schmerz splittrig im ganzen Körper. Derrick kam für zwei Tage nach Hause; er half seinem Vater, einen Weihnachtsbaum zu schlagen, half ihm beim Aufstellen, und einen Tag nach Weihnachten war er schon wieder weg, Skifahren mit ein paar Freunden. Kevin war weniger munter, als Harmon es sonst von ihm kannte, er wirkte erwachsen und ernst und womöglich ein bisschen ängstlich wegen Martha, die die Karottensuppe nicht anrührte, als sie erfuhr, dass Hühnerbrühe darin war. Die anderen Jungen sahen den Sportkanal und fuhren dann weite Strecken, um ihre Freundinnen zu besuchen. Harmon beschlich der Verdacht, dass es noch Jahre dauern konnte, bis er sein Haus voller Enkel bekam.
An Silvester lagen er und Bonnie schon um zehn im Bett. Er sagte: »Ich weiß nicht, Bonnie. Irgendwie haben mich die Feiertage dieses Jahr trübsinnig gemacht.«
Sie sagte: »Die Jungs sind jetzt erwachsen, Harmon. Sie haben ihr eigenes Leben.«
Eines Nachmittags, als im Laden nichts los war, rief er Les Washburn an und fragte, ob das Haus, das er dem jungen Burnham vermietet hatte, noch leer stand. Les sagte ja, an
junge Leute würde er so schnell nicht mehr vermieten. Tim Burnham war nicht mehr in der Stadt, was Harmon nicht gewusst hatte. »Ist mit irgend’nem Mädel abgehauen. Nicht dieser niedlichen kleinen Kratzbürste, die so krank war.«
»Bevor Sie’s anderweitig vergeben«, sagte Harmon, »können Sie ja vielleicht kurz Bescheid sagen. Ich brauche unter Umständen einen Platz zum Arbeiten.«
Und dann, an einem Januartag, nach einem dieser ganz kurzen Tauwettereinbrüche, bei denen der Schnee gerade so lang schmilzt, dass die Gehsteige nass sind und die Kotflügel der Autos funkeln, rief Daisy ihn im Laden an. »Kannst du vorbeikommen?«, fragte sie.
Olive Kitteridges Wagen stand in Daisys kleiner Einfahrt, und als Harmon ihn sah, wusste er Bescheid. Drinnen kochte Daisy Tee, weinend, und Olive Kitteridge saß trockenen Auges am Tisch und trommelte verbissen mit einem Löffel auf der Tischkante herum. »Diese gottverdammte oberschlaue Schwiegertochter von mir«, sagte sie. »Bei allem und jedem muss sie sich als Expertin aufspielen. ›Olive‹, sagt sie zu mir, ›du kannst doch nicht ernsthaft gedacht haben, dass sie es schafft. Leute, die an Anorexie leiden, werden nie wieder ganz gesund.‹ Und ich sag zu ihr: ›Gut, aber sie sterben
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