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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Worauf wartete er? Darauf, dass die Wehen so stark wurden, dass sein neues Leben hinausglitt ins Licht? Im Februar, als die Welt sich zögerlich wieder öffnete - mit dieser plötzlichen Frische, nach der die Luft manchmal schmeckte, den geschenkten Minuten der Helligkeit, wenn die Sonne auf einem schneebedeckten Feld verweilte und es violett färbte -, bekam Harmon Angst. Was zwischen ihnen aufgekeimt war, nicht durch ihre »Fickbeziehung«, sondern durch ein zartes Interesse am anderen, durch Fragen, die alte Erinnerungen aufrührten und wie ein Pfeil der Zärtlichkeit auf sein Herz zielten, während sie beide Freude und Kummer über Ninas kurzes Leben teilten - was so aufgekeimt war, hatte sich unleugbar zu einer heftigen, unheilbaren Liebe ausgewachsen, und sein Herz reagierte offenbar darauf. Er fand, dass es unregelmäßig klopfte. Wenn er in seinem Fernsehsessel saß, konnte er hören, wie es direkt hinter seinen Rippen pochte. Seine wummernden Schläge schienen ihn warnen zu wollen, dass es dies nicht lange durchhalten würde. Nur die Jungen, dachte er, waren den
Härten der Liebe gewachsen. Mit Ausnahme der kleinen zimtfarbenen Nina; und es schien ihm eine Verkehrung der natürlichen Ordnung, dass er den Staffelstab von ihr weitergereicht bekommen hatte. Nie, nie, nie durfte man aufgeben.
    Er ging zu dem Arzt, den er seit Jahren kannte. Der Arzt klebte Metallscheiben auf Harmons nackte Brust, an denen Drähte befestigt waren. Harmons Herz war kerngesund. Als er vor dem großen hölzernen Schreibtisch des Arztes saß, gestand er ihm, dass er sich mit dem Gedanken trug, seine Frau zu verlassen. Der Arzt sagte leise: »Nein, nein, das ist keine gute Idee«, aber es war seine Körpersprache, die Abruptheit, mit der er die Ordner auf seinem Tisch zur Seite schob, die Art, wie er auf Abstand ging, die sich Harmon einprägen sollte. Als hätte der Arzt gewusst, was Harmon nicht wusste: dass Leben miteinander verwachsen wie Knochen und dass nicht jeder Bruch heilt.
    Aber Harmon hörte nicht auf ihn. Niemand hört auf andere, wenn er auf diese Weise infiziert ist. Harmon wartete jetzt, entrückt in die traumgleiche Welt von Daisys großzügigem Körper, wartete auf den Tag, und er wusste, der Tag würde kommen, an dem er Bonnie verließ oder Bonnie ihn rausschmiss, welches von beiden, wusste er nicht, nur, dass es passieren würde - wartete wie Muffin-Luke auf den Schnitt in seine Brust, der vielleicht zum Tod führen würde und vielleicht zum Leben.

Umweg

    In einer kalten Juninacht erlebten die Kitteridges etwas Furchtbares. Henry war zu der Zeit achtundsechzig, Olive neunundsechzig, und auch wenn sie kein besonders jugendliches Paar waren, wirkten sie doch in keiner Weise alt oder gebrechlich. Aber ein Jahr später noch war man sich in der kleinen neuenglischen Küstenstadt Crosby einig: Das Erlebnis hatte beide Kitteridges verändert. Traf man Henry jetzt auf dem Postamt, dann hob er nur seine Post zum Gruß. Und wenn man ihm in die Augen schaute, war es, als sähe man ihn durch den Fliegendraht einer Veranda. Traurig, denn er war immer ein so offener, fröhlicher Mensch gewesen, selbst als sein einziger Sohn nach seiner Hochzeit Hals über Kopf nach Kalifornien gezogen war - eine große Enttäuschung für die Kitteridges, das wussten alle. Und mochte es Olive Kitteridge auch zu keiner Zeit für nötig befunden haben, verbindlich oder zumindest höflich zu sein, war sie es jetzt, als es wieder Juni wurde, noch weniger. Kein kalter Juni diesmal, sondern ein jäher Vorgriff auf den Sommer, der das Birkenlaub mit Sonnentupfern sprenkelte und die Einwohner von Crosby mitunter ungewohnt gesprächig machte.
    Oder wie kam es sonst, dass sich Cynthia Bibber im Einkaufszentrum draußen in Cook’s Corner vor Olive hinstellte und ihr eröffnete, ihre Tochter Andrea, die sich nach jahrelangen Abendkursen diplomierte Sozialarbeiterin nennen
durfte, befürchte, dass Henry und Olive ihre Erfahrung von letztem Jahr möglicherweise noch nicht hinreichend verarbeitet hatten? Panik, die unterschwellig blieb, werde nach innen verlagert, und das , so erklärte ihr Cynthia Bibber, die neben einem Ficus aus Plastik stand, mit bedeutsam gesenkter Stimme, könne zu einer Belastungsstörung führen.
    »Aha«, sagte Olive laut. »Sagen Sie Andrea, ich bin schwer beeindruckt.« Olive war bis vor einigen Jahren Mathematiklehrerin an der Crosby Junior High School gewesen, und so ungestüm sie vereinzelte Schüler zwischendurch in ihr Herz

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