Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
geschlossen hatte, in Andrea Bibber hatte sie nie etwas anderes sehen können als ein kleines, fades, duckmäuserisches Gänschen. Ganz die Mutter, dachte Olive und spähte an ihr vorbei zu den Seidennarzissen in ihrem künstlichen Stroh neben den Bänken am Joghurteisstand.
    »Das ist jetzt eine eigene Fachrichtung«, sagte Cynthia Bibber.
    »Was ist eine eigene Fachrichtung?«, fragte Olive, die überlegte, ob nicht ein Schoko-Joghurt-Eis eine gute Idee sein könnte, falls diese Frau je von ihr abließ.
    »Posttraumatische Betreuung«, sagte Cynthia. »Sogar vor dem elften September schon.« Sie klemmte sich ein Paket fester unter den Arm. »Wenn es irgendwo einen Unfall gegeben hat oder einen Amoklauf an einer Schule oder sonst irgendwas, binden sie heute sofort Psychologen mit ein. Aus eigener Kraft verarbeitet man so was nicht.«
    »So, so.« Olive schaute hinunter auf die Frau, die klein und zartknochig war. Olive, groß, wuchtig, ragte hoch über ihr auf.
    »Allen fällt auf, wie verändert Henry ist«, sagte Cynthia. »Und Sie auch. Und es ist nur so ein Gedanke, dass posttraumatische Betreuung vielleicht geholfen hätte. Oder immer
noch helfen kann. Andrea hat ihre eigene Praxis, wissen Sie - in Teilzeit mit einer anderen Frau zusammen.«
    »Aha«, sagte Olive wieder, diesmal richtig laut. »Sind das nicht hässliche Wörter, Cynthia, die diese Leute sich ausdenken - aufarbeiten, posttraumatisch, Belastungs-Dingsbums? Mich würde es belasten, den ganzen Tag mit solchen Wörtern um mich schmeißen zu müssen.« Sie hielt die Plastiktüte hoch, die sie in der Hand trug. »Haben Sie die Sonderangebote drüben bei So-Fro gesehen?«
    Auf dem Parkplatz konnte sie ihren Schlüssel nicht finden und musste den ganzen Inhalt ihrer Handtasche auf die sonnenglühende Kühlerhaube entleeren. Am Stoppschild sagte sie »Du mich auch« in den Rückspiegel, als ein Mann in einem roten Pick-up sie anhupte, dann bog sie auf die Straße, und die Tüte aus dem Stoffgeschäft rutschte vom Sitz, so dass eine Ecke Jeansstoff auf der vollgebröselten Bodenmatte zu liegen kam. »Andrea Bibber möchte, dass wir zu ihr zur posttraumatischen Betreuung kommen«, hätte sie früher zu Henry gesagt, und er hätte sich von dem Erbsenbeet aufgerichtet, das er gerade jätete, und die buschigen Augenbrauen zusammengezogen, sie sah es ganz genau vor sich. »Ach du Schreck, Ollie«, hätte er gesagt, im Hintergrund die Bucht und ein paar Möwen, die ein Hummerboot umflatterten. »Was für eine Vorstellung.« Und er hätte gelacht, mit zurückgeworfenem Kopf, so absurd hätten sie es beide gefunden.
    Olive fuhr auf den Highway; so fuhr sie jetzt immer vom Einkaufszentrum heim, seit Christopher in Kalifornien lebte. Sie hatte keine Lust, an dem Haus vorbeizufahren, das so schön proportioniert war und vor dessen großer Fensterbucht der Schwertfarn so prächtig gedieh. Hier bei Cook’s Corner führte der Highway am Fluss entlang, und heute schimmerte das Wasser, und die Pappelblätter bogen sich hin und her und zeigten ihre blassgrünen Unterseiten. Vielleicht hätte Henry
ja auch nicht über Andrea Bibber gelacht, selbst früher nicht. Man konnte sich täuschen, wenn man zu wissen glaubte, wie die Menschen reagierten. »Jede Wette«, sagte Olive laut, während sie auf das lichte Band des Flusses hinaussah, der hinter den Leitplanken glitzerte. Was sie meinte, war: Jede Wette, dass Andrea Bibber unter Trauma etwas anderes versteht als ich. »Mensch, Mensch«, sagte sie. Trauerweiden wuchsen unten am Ufer, ihre tiefhängenden, fedrigen Zweige waren von einem leichten, leuchtenden Grün.
     
    Sie hatte aufs Klo gemusst. »Ich müsste dringend mal aufs Klo«, hatte sie an dem Abend damals zu Henry gesagt, als sie gerade Maisy Mills erreichten. Henry hatte ihr freundlich erklärt, dass das noch etwas warten müsse.
    »Ah-ja?«, hatte sie gesagt, übertrieben betont in einer Parodie ihrer Schwiegermutter, Pauline, die mit dieser Frage auf alles zu antworten pflegte, was ihr nicht passte; mittlerweile war sie schon einige Jahre tot. »Ah-ja?«, wiederholte Olive. »Sag das meinem Darm«, fügte sie hinzu und setzte sich ein wenig anders hin in dem dunklen Auto. »Mist, Henry, mich zerreißt’s gleich.«
    Dabei lag so ein netter Abend hinter ihnen. Sie hatten sich mit ihren Freunden Bill und Bunny Newton getroffen, um ein neueröffnetes Restaurant ein Stück weiter flussaufwärts auszuprobieren, ein voller Erfolg. Die mit Krebsfleisch gefüllten

Weitere Kostenlose Bücher