Mit deinen Augen
schaute er mich an, aber ich hatte gar nicht das Gefühl, dass er sauer ist. Es war eher so, als wäre er derjenige, dem das Ganze peinlich sein muss und der etwas ausgefressen hat. Dann bin ich ins Bett gegangen. Ich war glücklich, aber auch irgendwie unsicher, weil ich dachte, er erzählt jetzt Mom alles, und dann darf Eliza nicht mehr bei uns übernachten. Sie war ja kein Kumpel mehr.«
Sid verfolgt eine Weile das Geschehen auf dem Bildschirm, und ohne den Blick abzuwenden, erzählt er mir mit flacher, distanzierter Stimme den Rest der Geschichte. Ich habe ihn noch nie so reden hören. Er benützt keinen Slang, er macht keine blöden Sprüche. Sein Blick bleibt stur auf den Maler gerichtet, dessen gedämpfte Art zu reden etwas Hypnotisches hat.
Sein Vater ging zu Eliza hinunter, die auf dem Sofa eingeschlafen war. Sie wachte auf, weil sie Sids Vater auf sich spürte, er küsste sie, rieb sich an ihr. Am nächsten Tag ging sie Sid aus dem Weg, wochenlang wich sie ihm aus, und er dachte, ihr Verhalten hätte etwas mit ihm zu tun. Aber schließlich sagte sie ihm alles. Sid wurde wütend. Er glaubte ihr nicht. Eliza war es egal, ob er ihr glaubte oder nicht. Nach einer Weile glaubte er ihr und hasste seinen Vater, hasste seine Mutter, weil sie seinen Vater liebte. Der Vater starb, und Sid erzählte seiner Mutter alles - von dem Bier, von den Küssen und dass sein Vater versucht hatte, seine betrunkene Freundin auszunutzen. Seine Freundin. Und das ist die Geschichte. Das ist Sids Geschichte.
»Alex weiß das alles nicht«, sagt er. »Sie denkt, meine Mom hat mich rausgeworfen, weil sie so fertig ist.«
»Warum hast du es ihr nicht erzählt?«
»Weil sie mit ihren eigenen Sachen genug zu tun hat. Das haben Sie doch selbst gesagt.«
»Und warum erzählst du es mir?«
»Weil Sie mich darum gebeten haben«, sagt er. »Und damit Sie aufhören, mich so anzusehen, als würde ich gleich losballern.«
»Hat deine Mutter dir geglaubt, als du es ihr erzählt hast?«
»Natürlich nicht.«
Er zappt noch mal alle Sender durch. Ich sehe eine Giraffe, einen sprechenden Schwamm, etwas, das gelötet wird, einen Anwalt, der einem Richter das Daumenhoch-Zeichen macht.
»Warum hast du ihr alles erzählt? Warum hast du es getan, als er schon tot war?«
Er bleibt bei einem Sender hängen: Ein Nachrichtensprecher berichtet von einem tödlichen Erdbeben in Äthiopien, darunter läuft ein Band: Noch fünf Tage bis zu den Oscars! Noch fünf Tage bis zu den Oscars!
»Weil ich sie respektiere«, sagt er. »Er war nie nett zu ihr. Seinetwegen gab’s immer nur Spannungen.«
»Aber du hast ihr Leben ruiniert.« Ich denke an Julie. Ich stelle mir vor, dass die Geschichte buchstäblich etwas in ihr zerstört hat.
»Ich habe ihr Leben nicht ruiniert«, sagt er. »Sie weiß es jetzt - so wie ich es weiß. Ich liebe meinen Dad immer noch. Wir haben ja auch noch unser Leben, das wir vorher hatten. Durch die Sache wird nicht alles an ihm schlecht, oder?« Zum ersten Mal blickt er mir in die Augen. »Ich muss ja nicht alles an ihm hassen, stimmt’s?«
Ich erwidere seinen Blick, aber dann werden seine Augen feucht. So soll ich ihn nicht sehen. Niemand soll ihn so sehen. Ich schaue zu dem Nachrichtensprecher.
»Du sollst fühlen, was du fühlst«, sage ich. »Du kannst ihn vermissen. Du kannst ihn lieben.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Sid jetzt zur Decke schaut. Ich stehe auf.
»Danke«, sage ich. »Ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast.«
»Keine Ursache.« Er räuspert sich.
Ich sage ihm noch, dass er wegen der Termiten kein Licht machen soll. Gute Nacht , sage ich dann und gehe zur Tür. Weil ich so ein unangenehmes Gefühl im Kopf habe, zermartere ich mir das Gehirn, ob ich noch irgendetwas sagen könnte, etwas, das alles wieder gut macht. Weine nicht. Ich bin bei dir .
In der Tür drehe ich mich noch einmal um. »Ist es dir warm genug hier? Sonst haben wir noch mehr Decken. Falls du welche brauchst.«
»Es geht mir gut«, sagt er. »Alles in Ordnung.«
»Ist dir in letzter Zeit beim Fernsehen irgendwas besonders aufgefallen?«, frage ich ihn. »Irgendwelche Beobachtungen, Gedanken?«
Er verdreht die Augen und unterdrückt ein Grinsen.
»Sag schon«, sage ich.«
»Die Krankheiten als Comicfiguren«, sagt er. »Die Werbung stellt Herpes oder Fußpilz und das ganze Zeug als eklige Zeichentrickgestalten dar, die rumschreien und Drohungen ausstoßen und über den Körper herfallen. Sehr blöd. Haben Sie diese
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