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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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Alzheimer, und Scott lebt nun mit seiner völlig veränderten Frau und deren Pflegerin zusammen; er erledigt die ganze Gartenarbeit und schwimmt seine Bahnen im Pool. Ich habe ihn schon öfter schwimmen sehen, und wenn er mit seiner Schwimmbrille und der Bademütze auftaucht, um Luft zu holen, bricht mir bei seinem Anblick immer fast das Herz. Das Gesicht trieft vom Wasser, und der weit aufgerissene Mund sieht aus wie auf Munchs Gemälde Der Schrei . Sein drittes Hobby ist das Trinken. Das liegt in der Familie. Ich konnte den Scotch in seinem Atem riechen, als er Scottie begrüßte und »Bingo!« rief, was er immer tut, sobald er sie sieht.
    Ich habe alles erzählt und ihm Joanies Patientenverfügung gegeben, die er gerade überfliegt. Sid ist schon die ganze Zeit still, wofür ich dankbar bin, aber dann sehe ich ihn mir etwas genauer an, wie er mit dunkler Sonnenbrille und einer tief ins Gesicht gezogenen schwarzen Mütze in seinem Liegestuhl sitzt: Er ist eingeschlafen. Alex sitzt am Fußende der Liege. Es stört mich, dass sie immer in seiner Nähe bleibt.
    »Das liest sich ja wie eine Fremdsprache«, sagt Scott, als er die Seiten durchblättert.
    »Stimmt«, sage ich.
    »Was ist das?«
    »Eine Patientenverfügung. Du hast auch eine.«
    »Ja, aber meine ist nicht so ein grauenhaftes Kauderwelsch. Da muss man ja erst mal Koreanisch lernen.« Er fuchtelt mit den Seiten in meine und Alex’ Richtung.
    »Deine ist garantiert genauso. Soll ich dir das Wesentliche erklären?«
    Er antwortet nicht und konzentriert sich wieder auf das Dokument. Bestimmt will er sich von mir nichts erläutern lassen. Er mochte mich noch nie. Am Anfang meiner Ehe hat er versucht, mich für seine Geschäftsideen zu gewinnen, aber ich habe immer gesagt, dass ich mit Freunden und Familie keine Geschäfte mache. Das war eigentlich eine Ausrede, weil ich nicht in seine Superprojekte verwickelt werden wollte. Meistens plante er irgendwelche Restaurantketten. Ich habe mir nicht enden wollende Businesspläne angehört, und in der Regel ging es darum, dass dieser oder jener Ort das Potenzial habe, das neue Waikiki zu werden. Einmal hätte ich fast angebissen, nur um endlich meine Ruhe zu haben, aber Gott sei Dank nur fast.
    »Kauderwelsch«, brummelt er.
    »Ich kann dir alles übersetzen, Scott. Ich weiß, die Formulierungen sind umständlich, weil die Zusammenhänge kompliziert sind, aber das ist mein täglich Brot. Ich helfe dir gern.« Ich denke an die Statements, die wie ein Versprechen des gesunden Ichs an das sterbende Ich klingen: Falls ich in einem dauerhaften Koma liege, wünsche ich nicht, dass mein Leben künstlich verlängert wird. Ich wünsche keinerlei lebenserhaltende Maßnahmen. Ich erlaube hiermit den Abbruch aller lebenserhaltenden Maßnahmen, künstlicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr und maschineller Beatmung. Der letzte Absatz geht mir immer besonders nahe: Ich wünsche keine schmerzlindernden Maßnahmen, die mein Leben verlängern würden. Das hört sich an, als wollte Joanie auch nicht getröstet und im Arm gehalten werden. Diesen Teil der Patientenverfügung kann Scott verstehen, denn da steht klar und deutlich, dass sie nicht mehr leben will.
    »Möchtest du, dass wir das Ganze gemeinsam durchgehen?«, frage ich noch einmal. »Es ist eine sehr detaillierte Verfügung - sie gibt genaue Anweisungen, welche medizinischen Maßnahmen sie wünscht, beziehungsweise in diesem Fall, welche sie nicht wünscht. Keine künstliche Beatmung, keine...«
    »Ich will es gar nicht hören. Ich weiß ja, was da steht. Da steht, sie will nicht, dass wir alle nur darauf warten, bis sie vermodert. Da steht, die Ärzte sollen nichts mehr tun, weil sie lieber abhauen will.«
    »Grandpa«, sagt Alex, »ist alles okay?«
    »Ja, kein Problem. Ich war darauf gefasst, und ich bin froh, dass Joanie vernünftig genug war, alles schriftlich festzulegen, und dass sie nicht selbstsüchtig war. Sie ist ein tapferes Mädchen«, sagt er, viel zu laut, und seine Stimme zittert. »Sie war schon immer stärker als ihr Bruder. Barry nörgelt sich durchs Leben. Mit sechzehn hat er schon ausgesehen wie dreißig. Womöglich ist er sogar schwul, wer weiß.«
    »Barry ist nicht homosexuell«, sage ich. »Er mag Frauen.« Ich denke an Barry. Er war immer mollig und lieb. Jetzt macht er Hot Yoga und etwas namens Budokon und ist zäh und gelenkig wie ein wildes Tier.
    »Sie ist stärker als du, Matt«, fährt Scott fort. »Sie hat in einem einzigen Jahr intensiver

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