Mit der Zeit
dieser Strecke«, sagte sie, »würden sie uns aufspüren, wenn wir noch das Turiner Nummernschild hätten. Dazu wäre nicht mehr erforderlich als zwei Männer mit wachen Augen und ein bißchen Glück.«
Ich widersprach ihr nicht. »Wo fahren wir hin? In welcher Gegend liegt denn das sichere Haus?«
Ich rechnete eigentlich mit einer weiteren Abfuhr, in der Art von: das braucht Sie nicht zu interessieren. Zu meiner Überraschung gab sie mir eine Antwort. »Stresa am Lago Maggiore.«
»Wer hat das ausgesucht?«
»Es war eine gemeinsame Entscheidung. Die Verkehrsverbindungen sind dort sehr gut. Wir sind in der Nähe eines internationalen Flughafens. Die schweizerische und die französische Grenze sind beide bequem mit dem Auto zu erreichen. Es gibt sogar Schnellzüge, wenn man das will. Es ist ein blühendes kleinbürgerliches Städtchen. Was jedoch dem Patron besonders zusagte, war, daß er darüber lachen konnte. Schon allein der Name.«
»Sorry. Das versteh ich nicht. Den Witz, meine ich.«
»Stresa war der Ort, an dem zwei der absurdesten internationalen Konferenzen während der 30er Jahre stattfanden. 1932 trafen sich fünfzehn große Nationen, um wirtschaftliche Zusammenarbeit für ganz Europa zu vereinbaren. Und sie fuhren in dem Glauben nach Hause, sie hätten sich tatsächlich geeinigt. 1935 waren es dann Frankreich, Großbritannien und Italien – die nannten sich selbst Die Großen Drei, das muß man sich mal vorstellen –, die sich trafen, um zu verhindern, daß die Nazis Deutschland wieder aufrüsteten. Er glaubt, unter dem Vorsitz Mussolinis müsse das die absurdeste aller Konferenzen gewesen sein. Ich weiß es nicht. Ich war noch nicht geboren.«
»Zander war da selber noch ein Teenager. Seine Familie war zu der Zeit wahrscheinlich für die Nazis. Hält er internationale Konferenzen immer noch für einen Witz?«
»Er glaubt, Geheimdiplomatie würde der Welt besser bekommen.«
»Viele Berufsdiplomaten sind derselben Meinung.«
»Und Sie? Sie halten das für falsch?«
»Nein. Ich glaube nur nicht, daß Geheimnisse – gleich welcher Art – heute noch eine große Chance haben, Geheimnisse zu bleiben. Jedenfalls nicht sehr lange. Sie sind die Sicherheitsexpertin. Was meinen Sie?«
»Manche Dinge lassen sich lange genug geheimhalten.« Ihre Lippen wurden schmaler. »Sie müssen geheim bleiben.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Und was ist Stresa heute für ein Ort?«
»Oh, es ist sehr malerisch.« Es klang jedoch nicht, als ob sie das interessierte. Ihre Gedanken waren noch bei den Geheimnissen.
Sesto C. das sich als Sesto Calende entpuppte, war alles andere als malerisch. Das gleiche galt für Arona. Es gelang mir jedoch, den Bohlenweg vom Abend vorher zu identifizieren. Es war eine abgenutzte Hohlträger-Brücke über einen Bach in der Nähe von Arona. Die heftigen Stöße kamen entweder von unförmigen Verbindungsstücken oder, und das war wahrscheinlicher, von stählernen Höckern, die man absichtlich dort befestigt hatte, damit der Verkehr gezwungen war, sehr langsam zu fahren.
Bald begann ich zu unserer Rechten den Lago Maggiore zu sehen, blaue Streifen zwischen den hohen Mauern der massigen alten Villen, die das Seeufer säumen. Als wir durch Belgirate fuhren, holte Chihani das Funkgerät aus dem Handschuhfach und reichte es über ihre Schulter nach hinten zu Mokhtar. Er unterzog sich für sie der Prozedur des Rückmeldens. Das einzige, was anders war als am Abend vorher, war für mich die Stimme, die sich am anderen Ende meldete; es war diesmal keine Frauen-, sondern eine Männerstimme.
Stresa sieht ein bißchen aus wie Cannes vor der Ära der Hochhausbauer und Showbusiness-Festivals. Es hat zwar den einen oder anderen architektonischen Fehltritt hinnehmen müssen, so etwa ein Kongreßzentrum, und der Corso Umberto Primo muß als Parkplatz für entschieden zu viele Pauschalreisen-Omnibusse herhalten, aber der vorherrschende Stil ist nach wie vor belle époque à l’italienne . Die Souvenirläden liegen immer noch unauffällig hinter den überladenen Grand Hotels, die auf den See und seine verzauberten Inseln hinunterblicken. Im letzten Moment, bevor wir nach links auf die Pflastersteine abbogen, erwischte ich noch einen kurzen Blick auf die Isola Bella. Und dann waren wir in einer offenbar älteren und nicht gerade reizvollen Wohngegend. Gebäude wurden abgerissen. Unmittelbar vor dem Bahngleis bogen wir in eine Straße ein, in der es einen Klempner, einen Sattler und einen
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