Mit dir an meiner Seite
Hefte und Bücher auf meinem Schreibtisch liegen.«
»Du hast doch jetzt Ferien und musst keine Hausaufgaben machen.«
»Ich meine ja nur - vielleicht kann ich um den Schreibtisch in meinem Zimmer zu Hause auch eine Wand ziehen.«
Steve unterdrückte ein Grinsen. »Das musst du mit deiner Mutter besprechen.«
»Kannst du das nicht übernehmen?«
Jetzt musste sein Dad doch lachen. »Hast du eigentlich keinen Hunger?«
»Du hast gesagt, wir lassen Drachen steigen.«
»Tun wir auch. Ich will nur wissen, ob du was zum Mittagessen möchtest.«
»Ich glaube, ich hätte am liebsten ein Eis.«
»Die Idee finde ich nicht besonders gut.«
»Kekse?« Jonah klang hoffnungsvoll.
»Wie war's mit einem Erdnussbutterbrot mit Gelee?«
»Okay. Aber danach lassen wir den Drachen steigen, versprochen?«
»Ja.«
»Den ganzen Nachmittag?« »Solange du willst.«
»Okay. Dann esse ich das Sandwich. Aber du musst dir auch eins machen.«
Lächelnd legte Steve ihm den Arm um die Schulter. »Einverstanden«, murmelte er, und sie gingen beide in die Küche.
»Das Wohnzimmer ist jetzt viel kleiner«, bemerkte Jonah.
»Ich weiß.«
»Und die Wand ist echt schief.« »Ich weiß.«
»Und sie passt nicht zu den anderen Wänden.« »Worauf willst du hinaus?«
Mit ernster Miene antwortete Jonah: »Ich möchte nur sicher sein, dass du nicht verrückt geworden bist.«
Es war das perfekte Wetter, um Drachen steigen zu lassen. Steve saß auf einer Düne hinter dem Haus und schaute zu, wie der Drachen im Zickzack über den Himmel sauste. Jonah rannte den Strand hinauf und hinunter, wie immer voller Energie. Stolzerfüllt beobachtete ihn Steve. Und dachte mit leiser Melancholie, dass weder sein Vater noch seine Mutter je so etwas mit ihm gemacht hatten.
Seine Eltern waren keine schlechten Menschen gewesen. Sie hatten ihn nicht misshandelt, er hatte nie Hunger gehabt, sie hatten sich kein einziges Mal in seiner Gegenwart gestritten. Ein- oder zweimal im Jahr wurde er zum Zahnarzt und zum Kinderarzt geschickt. Im Winter hatte er stets einen warmen Mantel und fünf Cent in der Tasche, damit er sich in der Schule Milch kaufen konnte. Aber sein Vater war sehr verschlossen, und das galt auch für seine Mutter. Waren sie vielleicht deswegen so lange verheiratet gewesen? Seine Mutter stammte ursprünglich aus Rumänien; die beiden hatten sich kennengelernt, als sein Vater in Deutschland stationiert war. Mom sprach fast kein Wort Englisch, als sie heirateten, und sie stellte die Kultur, in der sie aufgewachsen war, nie infrage. Sie kochte und putzte und kümmerte sich um die Wäsche. Nachmittags arbeitete sie Teilzeit als Schneiderin. Am Ende ihres Lebens beherrschte sie die neue Sprache einigermaßen, sie kam auf der Bank und im Supermarkt problemlos zurecht, hatte aber immer noch einen so starken Akzent, dass die Leute sie manchmal nur schwer verstehen konnten.
Sie war außerdem eine gläubige Katholikin, was damals in Wilmington eine Seltenheit war. Jeden Tag ging sie in ihre Kirche und betete abends den Rosenkranz. Zwar mochte Steve die Tradition und die Liturgie der Sonntagsmesse, doch den Priester fand er immer sehr kalt und arrogant. Auf ihn wirkte er wie ein Mann, der sich mehr für die Kirchenvorschriften interessierte als für das Wohlbefinden seiner Gemeinde. Manchmal - das heißt eigentlich sehr oft - fragte sich Steve, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht mit acht Jahren die Musik gehört hätte, die aus der Baptistenkirche von Pastor Harris drang.
Vierzig Jahre später waren die Einzelheiten in seinem Gedächtnis etwas verschwommen. Er erinnerte sich, dass er eines Nachmittags die Kirche betrat und hörte, wie Pastor Harris Klavier spielte. Der Pastor musste ihm das Gefühl vermittelt haben, willkommen zu sein, denn er ging immer wieder hin, und schließlich erklärte sich Pastor Harris bereit, ihm Klavierunterricht zu geben. Nach einer Weile besuchte er auch den Bibelkreis der Gemeinde - wovon er allerdings später wieder Abstand nahm. Aber in vielerlei Hinsicht wurde die Baptistenkirche seine zweite Heimat und Pastor Harris sein zweiter Vater.
Seine Mutter war nicht gerade entzückt, als sie das erfuhr. Wenn sie sich aufregte, sprach sie immer Rumänisch, und viele Jahre lang hörte Steve sie unverständliche Worte murmeln, wenn er in die Kirche aufbrach. Außerdem bekreuzigte sie sich. Die Tatsache, dass ein baptistischer Pfarrer ihm Klavierunterricht gab, war ihrer Meinung nach so ähnlich, wie wenn man mit
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