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Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)

Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)

Titel: Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Schmieder
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abfällig über ihren Fitnesszustand geäußert.
    Fünf Beleidigungen innerhalb einer Stunde. Und das ohne Schimpfwörter.
    Ich gehe in die Arbeit – und werde sogleich von einem Kollegen begrüßt, der die Bürotür hinter sich schließt und sich über die Vorkommnisse in der Morgenkonferenz echauffiert. Er motzt, beleidigt, redet übel nach. Kleine Lästereien über ungeliebte und auch über geliebte Kollegen gehören zu den Gründen, warum man morgens aufsteht und sich in die Arbeit schleppt. Es baut Aggressionen ab, ohne dass jemand direkt verletzt wird.
    Es gibt Dinge, die müssen einfach gesagt werden – aber nicht alles, was gesagt werden muss, muss auch gehört werden.
    Wir hoffen alle, dass das, was in dem Lästerraum passiert, auch in dem Lästerraum bleibt. So wie alles in Las Vegas bleibt, was in Las Vegas passiert. Nur: Nicht alles bleibt in Las Vegas, Herpes etwa nimmt man mit nach Hause. Und genauso passiert es mit Gerüchten und Lästereien: Irgendwann kommt es heraus. Die meisten Menschen verfahren dann so: Wenn ich erwischt werde, dann finde ich einen Weg, mich herauszureden. Und wenn ich mich nicht herausreden kann, dann schiebe ich die Schuld auf einen anderen. Und wenn ich die Schuld nicht auf einen anderen schieben kann, dann hoffe ich, dass es keinen Beweis für meine Schuld gibt. Wenn es einen Beweis für meine Schuld gibt, dann versuche ich, den Beweis ins Lächerliche zu ziehen. Sollte das nicht funktionieren, so brülle ich so lange herum, bis sich keiner mehr traut, mich anzuklagen.
    Mein Vater hat sein ganzes Leben auf dieser Begründungskette aufgebaut – und wenn wir ehrlich sind, dann tut das fast jeder: Es vergeht bei den meisten Menschen kein Tag, ohne dass sie eine andere Person beleidigen, sie in ihrer Ehre herabwürdigen oder schlecht über sie reden.
    Ich hatte an den Tagen meiner Analyse ein Diktiergerät in der Hosentasche, sodass ich abends noch einmal abhören konnte, was am Tag so gesagt wurde: 58 Beleidigungen, davon 34 mit Schimpfwort, 79 herabwürdigende Aussagen, 145 falsche Tatsachenbehauptungen, 117 Lästereien, die man als anzeigewürdige Beleidigungen interpretieren kann. 83 Aussagen, die als sexuelle Belästigung gewertet werden können, übrigens stammen 39 davon von Frauen – #aufschrei ist also keine sexistische Einbahnstraße. Dazu kommen noch 53 beleidigende Gesten pro Tag.
    Ich bin fest entschlossen, ein ehrlicher und doch netter Mensch zu werden und keine Beleidigungen mehr zu verwenden und nicht mehr zu lästern. Ich frage mich selbst vor jeder Aussage: Könnte ich den anderen verletzen durch das, was ich sage?
    Ein paar Tage lang fällt es mir schwer, ich ertappe mich nicht selten dabei, spontan Sätze zu sagen wie: »Das ist doch kompletter Blödsinn!« Oder: »Der hat doch überhaupt keine Ahnung, was er macht.« Oder: »Du Knalltüte!« Und natürlich auch: »Du Arsch!« Es ist unglaublich, wie man vor sich selbst erschreckt, wenn man sich mal ein paar Tage lang beobachtet.
    Aber es ist möglich: Man kann seinen Mitmenschen die ehrliche Meinung mitteilen, ohne sie gleich zu beleidigen. Man braucht keine Schimpfwörter, um seinem Unmut Luft zu machen. Und Lästern macht gar nicht so viel Spaß, wie ich immer dachte.
    Es ist ein ständiger Kampf mit mir selbst, die richtigen Worte zu finden. Und weil ich nicht lügen möchte, muss ich sagen, dass ich bei diesem Gesetz vor allem in den ersten Monaten total versagt habe, in den mittleren Monaten ein wenig besser war und nun beim Tippen dieser Zeilen wieder total versage. Ich ärgere mich über mich selbst, also habe ich vorhin den Computer als »inkompetentes Dreckschwein« beschimpft, meinen Vater beleidigt, weil er es gewagt hatte, mich beim Schreiben zu stören, meinen Neffen als »aufgeblasenen Luftballon« bezeichnet, dessen »Nacken man für gutes Geld beim Metzger verkaufen könnte« – und den Braten meiner Mutter für »trockener als die Sahara« erklärt.
    Autoren sind unsensible Schwachköpfe, wenn sie gerade einen Text schreiben – und sollte ich hiermit einen ganzen Berufsstand beleidigt haben: Nun tut nicht so scheinheilig, wir sind wirklich meistens unsensible Schwachköpfe!
    Ich versage auf der ganzen Linie.
    Meine Frau ist dennoch glücklich über die Verbesserung und belohnt jeden Tag ohne Beleidigung mit einem Cupcake. Sie freut sich vor allem darüber, dass unser Sohn keine schlimmen Wörter von seinem Vater lernt. Auffällig ist außerdem, dass mir die Menschen respektvoller

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