Mit falschem Stolz
während Eurer Verbannung die Truhe zu öffnen«, flüsterte Alyss.
Dann schwiegen sie alle drei.
Dem Overstoltz musste sehr unbehaglich zu Mute sein.
Stolz zu schlucken war ärger, als eine Kröte zu verspeisen.
Nach einer langen Weile räusperte er sich.
»Was verlangt Ihr von mir?«
»Gerechtigkeit.«
»Wiedergutmachung.«
Und John fasste es zusammen: »Standesehre.«
Der Overstoltz nickte.
»Unser Vater, wohledler Herr, hat ein krankes Herz. Wir bangen um sein Leben, seit die Büttel vor der Tür standen und ihn wie einen räudigen Hund in den Turm schleppen wollten. Auf Anklage des Schöffen Endres Overstoltz.«
Wieder sah der Patron sie an und nickte.
»Der Herr vom Spiegel ist ein ehrenwerter Mann. Die Anklage wird umgehend zurückgezogen. Ich wünsche ihm eine schnelle Genesung, Frau Alyss. Und nun verlasst mein Haus. Ich habe Angelegenheiten zu regeln.«
Die Kröte war geschluckt, der Stolz ungebrochen, doch weder in der Haut des Schöffen noch in der des Altaristen wollte Alyss nun gerne stecken.
Der Haushofmeister geleitete sie zur Tür, und wieder auf der Gasse meinte Marian: »Beeindruckend, Lord John.«
»Mistress Alyss hat mir oft genug meine überwältigende Arroganz bescheinigt. Ich dachte, hier könnte sie über Stolz triumphieren.«
»Sie stand Euch gut an, my Lord«, sagte Alyss und sah ihn an.
»Nennt mich nicht so, Mistress Alyss.«
»Warum nicht?«
Marian trat ihr auf den Fuß. Sie ignorierte es und sah John weiter fragend an.
»Der Titel steht mir nicht zu.«
»Und doch verwendetet Ihr ihn soeben.«
»Für den einen Zweck.«
»Werdet Ihr ihn wieder führen?«
»Wünscht Ihr es, Mistress Alyss?«
»Wollt Ihr es, John?«
Er schaute in die Ferne. Vor ihnen lagen die hohen Stapelhäuser des Rheinhafens.
»Ich habe geschworen, ihn nicht mehr zu führen«, murmelte er.
»Wem geschworen, John?«, fragte Marian.
»Lasst uns gehen.«
»Ja, gehen wir. Aber du schuldest meiner Schwester eine Antwort. Irgendwann.«
»Sie wird eine erhalten. Ich werde mich jetzt auf die Spur des Studenten machen. Kümmert Ihr Euch um Lord Ivo.«
Alyss nickte und meinte: »Wenn Ihr Rat braucht, was die Verzeichnisse der Studenten angeht, so könnte Euch wahrscheinlich auch Magister Jakob weiterhelfen, Master John.«
»Ja, eine gute Idee. Ich suche ihn auf.«
»Tut das, und berichtet ihm auch von Eurer Unterhaltung mit dem Overstoltz. Die Schilderung wird ihn in Entzücken versetzen.«
»Glaubt Ihr, dass Magister Jakob befugt dazu ist?«
»Wozu?«
»Zum Entzücken.«
Alyss lächelte.
»Verschafft ihm die Befugnis, John.«
Er lächelte zurück, hob grüßend die Hand und strebte Richtung Lyskirchen. Alyss setzte ihren Weg mit Marian am Rheinufer fort.
»Ich bringe dich noch zum Haus, dann begebe ich mich zu Trine und Jan. Ich will einen Vorrat an Medizin für unseren Vater holen.«
»Vermutlich hat Mutter schon Trine gerufen.«
»Ja, kann auch sein. Alyss, ich werde wieder auf Reisen gehen. Was, wenn er dann einen solchen Anfall hat?«
»Dann wird Mutter sich darum kümmern.«
»Noch nicht einmal …«
»Marian!«
»Ja, richtig, Schwester mein. Ich muss mich daran gewöhnen. Nur hoffe ich, dass, wenn immer der Allmächtige beschließt, diese Welt zu verlassen, ich dann bei ihm sein kann.«
»Er wird das zu richten wissen. Sein Wille ist allgewaltig, das wissen wir doch.«
»Ja, wahrscheinlich wird er sowieso älter als Methusalem.«
»Wann wirst du reisen?«
»Bald. Nach Venedig. Der Leiter des dortigen Kontors bereitet unserem Vater Sorgen.«
»Du hast das Land gemocht, erinnere ich mich.«
»Ja. Die Zitronen blühen das ganze Jahr dort.«
Diese leicht unverständliche Aussage verwunderte Alyss, aber sie fragte nicht nach, denn sie hatten das Haus am Alter Markt erreicht.
»Bis später, Schwesterlieb.«
Alyss erfuhr von ihrer Mutter, dass der Herr vom Spiegel in einen sanften Schlaf geglitten sei und Jan van Lobecke bereits einige Flakons und Tiegel mit Arzneien gebracht hatte.
»Er wird das Zeug verschmähen, aber ich weiß schon, wie ich ihn dazu bekomme, es einzunehmen«, sagte Frau Alyss.
»Ja, da bin ich ganz sicher. Und eine Gefahr droht ihm nun von dem Schöffen nicht mehr.«
»Berichte.«
Frau Almut war befugt, ihr Entzücken zu zeigen, und sie tat es ausgiebig.
»Das wird dem Herzen deines Vaters neue Kraft verleihen. Dein John ist ein willensstarker Mann.«
»Er ist nicht mein John.«
»Ach, das habe ich früher auch immer von deinem Vater
Weitere Kostenlose Bücher