Mit falschem Stolz
auch andere Pflichten, Pitter. Sie erfordern meine Aufmerksamkeit.«
»Entscheide dich, wem deine Aufmerksamkeit mehr gilt, Marian – dem Erlernen der chirurgischen Kunst oder deiner Familie.«
Es hatte Marian überrascht, so streng zurechtgewiesen zu werden. Aber als er nach dem Besuch im Turm durch die Straßen zu seiner Schwester wanderte, musste er sich eingestehen, dass Pitter nicht unrecht hatte. In den ersten drei Monaten war er regelmäßig seinen Aufgaben nachgekommen, hatte erst barbieren gelernt, dann den Aderlass. Blutstillen auf die unterschiedlichen Arten beherrschte er inzwischen, und wie man mit einer gebogenen Nadel und feinem Darm klaffende Wunden nähte, hatte er auch kräftig geübt. Doch Schneiden war etwas, das ihn unsägliche Überwindung kostete. Schon das Entfernen kleiner Warzen oder Furunkel … Er schüttelte sich. Und zweifelte. Immer häufiger begann er in der letzten Zeit daran zu zweifeln, dass er wirklich zum Heiler berufen war.
Der Wunsch war dem Elend entsprungen, das er durchlebt hatte, als er bei der Rückkehr von seiner letzten Handelsfahrt vor zwei Jahren überfallen worden war. Nicht nur, dass er dabei beinahe zu Tode gekommen war – das Weib, an das er sein Herz verloren hatte, war dabei in seinen Armen gestorben. Die Hilflosigkeit, sie nicht retten zu können, hatte ihn tief verstört, und als er von den erstaunlichsten Heilern schließlich zusammengeflickt worden war und allmählich seine körperlichen Kräfte wiedererlangt hatte, war der Entschluss in ihm gereift, selbst ein Heiler werden zu wollen. Nicht Medizin wollte er studieren – die Ärzte, die ihn zu behandeln suchten, waren ihm samt und sonders wie hochtönende Dilettanten vorgekommen –, nein, die praktischen Anwendungen zu erlernen war sein Ziel. So hatte er sich die Hebammenkunst von Catrin, das Knocheneinrenken von Meister Hans, dem Henker, und die Arzneimittelherstellung von Trine und Jan beibringen lassen. Sein Vater hatte ihm seinen Willen gelassen, obwohl der eigentlich gehofft hatte, dass sein Sohn seine Nachfolge in dem großen Handelshaus antreten würde. Ein Grund mehr für Marian, einen beständigen Gewissensdruck zu verspüren.
Seine Schritte waren immer langsamer geworden, und als er unaufmerksam in eine stinkende Lache trat und beinahe auf den matschigen, faulen Kohlblättern ausgerutscht wäre, fasste er sich wieder.
Es gab dringendere Probleme zu lösen, als sich mit seinen Zweifeln herumzuplagen. John war am Tag zuvor eingetroffen, und am Abend hatten sie gemeinsam das Vorgehen besprochen. Auch John war der Meinung, dass Robert weiterhin als sein Diener auftreten sollte, würde aber am Montag bei der Gerichtssitzung für ihn bürgen. Die Geschichte, dass er ihn vorgeschickt hatte, um Quartier zu suchen, wirkte glaubhaft, desselben der Überfall vor den Toren. Es gab keine Zeugen, die ihn in der Nähe des Ermordeten gesehen hatten. Ein Gnadengesuch der Tuchhändlergaffel würde seine Argumentation stützen. Allerdings fragten sie sich, wer Bob, besser Robert, denunziert haben konnte. Das aber würde vielleicht auch bei der Sitzung zu erfahren sein.
Immerhin hatte das Gespräch, das John und er eben mit Robert geführt hatten, noch ein paar Lichter mehr auf Arndts Umtriebe geworfen. John hatte sich ausbedungen, ohne einen Wachmann mit seinem Diener reden zu dürfen. Eine Goldmünze hatte dies möglich gemacht. Und so hatte Marian erfahren, dass Robert John nicht nach England begleitet hatte, denn erstens wollte er Frieder nicht begegnen und zweitens hatte er vor, Arndt zu folgen, nachdem er der Stadt verwiesen worden war. Wie sie schon fast vermutet hatten, war Arndt erneut nach Marienhafe gereist, um seine unlauteren Geschäfte mit dem Friesenhäuptling Folcko wieder aufzunehmen. Er wollte das Plündergut von dem letzten Überfall, der John und Tilo beinahe das Leben gekostet hätte, in Bremen verkaufen. Aber Folcko hatte bemerkt, dass Arndt versucht hatte, ihn zu betrügen und um seinen Gewinn zu prellen. Darum wurde er von den Friesen verjagt. Mittellos und abgerissen war er trotz der Drohung, dass seine Taten öffentlich angeprangert würden, nach Köln zurückgekehrt.
»Er ist bei seiner Buhle in Riehl untergeschlüpft. Und da habe ich einen Fehler begangen«, hatte Robert erklärt. »Ich dachte, er würde sich nicht durch die Stadttore wagen, also habe ich nicht widerstehen können und bin zum Beginenkonvent gegangen, um zu sehen, ob es Catrin gut geht.«
»Wann war das?«
»Am
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