Mit falschem Stolz
herabhängende Hand.
»Kann nicht zurück. Muss sterben.«
»Nein, child . Du musst …«
Heftig schüttelte sie den Kopf. Frieder, geistesgegenwärtig, hatte eine Möhre aus dem Boden gezogen und an seinem Ärmel abgeputzt.
»Iss, Lore!«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ich kann sie dir auch in den Rachen schieben.«
»Lass es gut sein, Frieder. Ich werde dieses kleine misery nach Hause tragen. So schwer ist sie nicht.«
»Nicht.«
Lore kam auf die Beine. Schwankend.
»Da, iss!«
Frieder streckte ihr die Möhre hin. Lores Augen in ihrem dreckverschmierten Gesicht wanderten von dem einen zum anderen. Dann senkte sie den Blick und biss in die Möhre. Frieder gab ihr eine zweite.
John hingegen betrachtete sie nachdenklich. Es war ein Anflug schmerzlichen Mitleids, das er verspürte. Nicht so sehr der jämmerliche Zustand des Kindes rührte ihn – er hatte bei Weitem Schlimmeres in den Häfen gesehen. Es war das Elend, das in ihrer ganzen Haltung lag. Schuld drückte sie nieder. Sie hatte etwas getan, das unsagbar auf ihr lastete, und wollte büßen.
Vergebung konnte ihr nur zuteilwerden von jenen, denen sie, willentlich oder unwissentlich, Schaden zugefügt hatte. Er verstand sie gut.
Und darum befahl er: »Wir gehen in die Witschgasse. Auf, Lore!«
»Ja, Herr Master.«
Sie war schwach, die Kleine. Und immer wieder stolperte sie, fiel hin, raffte sich wieder auf. Als sie zum zweiten Mal zusammenknickte, zischte Frieder ihm ein böses Wort zu und wollte ihr helfen.
»Lass sie«, sagte er leise. »Sie will leiden.«
Frieder ballte die Fäuste.
»Denk mal nach, youngman !«
Die Fäuste lösten sich langsam. Frieder hatte verstanden, dass er ihr nicht helfen durfte.
Benefiz nicht.
Er drängte sich an das Kind am Boden und drückte ihr seine Nase ins Gesicht, jiepte auffordernd.
Lore stand mühselig auf. Sehr langsam gingen sie weiter.
Kurz vor dem Ziel aber stolperte Lore wieder, fiel auf das Pflaster. Ein Fuhrwerk rollte heran, und John zerrte sie hoch. Er nahm sie auf die Arme, rümpfte die Nase, denn ihren völlig verdreckten Kleidern entströmte ein fauliger Geruch. Doch diesmal wehrte Lore sich nicht mehr, sie schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben.
25. Kapitel
E igentlich hatte Marian Mats nur aufsuchen wollen, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Zuvor war er zu dem Häuschen an der Burgmauer gewandert, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Verlassene Wohnungen waren oft das Ziel von Dieben und Plünderern. Doch die Tür war verschlossen und die Läden zugeklappt. Eine Nachbarin streckte auch sogleich ihren Kopf oben aus ihrem Fenster und herrschte ihn an: »Was wollt Ihr da?«
»Nach dem Rechten schauen, Gevatterin. Ich bin ein Freund des Messerschleifers.«
»Das kann jeder sagen!«
Eine andere, jüngere Frau öffnete nebenan die Tür und musterte ihn mit strengem Blick. Dann nickte sie.
»Ist gut, Mutter Metild. Der ist der Gislindis ihr feiner Freund. Der hat ihr’s Schreiben beigebracht.«
Die Formulierung schmeckte Marian zwar nicht besonders, aber sie schien eine Bürgschaft zu sein.
»Ihr achtet auf das Heim, solange die Schlyffers fort sind?«, fragte er.
»Wir und zwei Bejinge. Die kommen jeden Tag.«
»Das ist gut. Danke.«
»Was ist mit der Gislindis? Sie hat nichts Böses getan. Und der Mats auch nicht.«
»Deshalb versuchen wir ja, sie so bald wie möglich freizubekommen, Gevatterin.«
»Mhm.«
Viel Vertrauen schienen die Frauen nicht in ihn zu setzen, aber er verbeugte sich höflich und wandte seine Schritte in Richtung Eigelstein. Seine Gedanken aber gingen, wie so oft, zu Gislindis. Es waren so heitere Stunden gewesen, die er damit verbracht hatte, sie das Buchstabieren und das Wörterbilden zu lehren. Sie war klug, sie verstand sehr schnell das Konzept der Zeichen und Laute und war jedes Mal so überschäumend glücklich, wenn sie wieder einen Satz fehlerfrei entziffern konnte. Geneckt hatten sie sich dabei, und auch seinen Witz verstand sie gut zu parieren. Warum nur hatte sie sich von ihm abgewandt? Was hatte er ihr getan, dass sie so kühl geworden war?
Hatten die Texte, die er für sie kopiert hatte, sie abgestoßen? Es waren heitere Minnelieder, keine derben Verse. Sie hatte anfangs auch gescherzt darüber, und den einen oder anderen süßen Kuss hatte er ihr entlocken können.
Mehr wollte er doch gar nicht.
Oder vielleicht doch?
Es wäre schön gewesen, ein solch lebenslustiges, gescheites und schönes Weib um sich zu haben.
Marian
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