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Mit falschem Stolz

Mit falschem Stolz

Titel: Mit falschem Stolz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Ein frischer Duft stieg dabei auf.
    »Poleiminze. Wie man sagt, wird sie in fernen Ländern mit Gold und Ebenholz aufgewogen. Sie vertreibt die Flöhe, ein Aufguss aus den Blättern hilft gebärenden Frauen und allgemein gegen Leibschmerzen. Nimmt man zu viel, wirkt es als Gift und treibt die Föten ab.«
    »Du hast bei den Apothekern viel über die hiesigen Kräuter gelernt.«
    »Das ist das Gebiet, das mir die meiste Freunde bereitet hat. Mit Salben und Tinkturen, Pillen und Pulvern muss ich keine Schmerzen verursachen.«
    »Mit Knocheneinrenken, Schneiden und Hebammendiensten schon.«
    »Aber ich kann doch meine Gabe nicht verleugnen. Ich muss doch helfen«, stöhnte Marian auf.
    »Und kannst dennoch nicht alle und jeden heilen. Genau wie wir nicht jeden Hungernden nähren, jeden Bedürftigen schützen, jeden Nächsten lieben können.«
    »Nein, das kann man nicht …«
    »Ich habe auch schon manches Mal darüber nachgedacht. Es gibt viel Leid in der Welt. Wir können nur dort etwas tun, wo es uns berührt. Ich habe die Eselin behandelt, Marian, doch Hunderte von anderen Eseln werden tagein, tagaus geschlagen und geschunden.«
    »Du hast den Spitz geheilt, dem Falken den verletzten Flügel gerichtet, Magister Jakobs Kätzchen Hilfe gebracht, und dennoch sterben Hunde, Falken und Katzen jeden Tag. Ich weiß.«
    »Es sind die Tiere, die meiner Fürsorge anvertraut wurden. Wer, Marian, bedarf deiner Fürsorge?«
    »Niemand.«
    »Marian!«
    »Ja, ich bin düsterster Stimmung.« Er zupfte an einem weiteren Kraut in ihrem Korb, und würziger Duft erfüllte die Luft. »Bitter, doch hilft der Wermut der Galle und vertreibt das Kopfweh.«
    »Eine bittere Medizin, du solltest sie nehmen.«
    »Offensichtlich.«
    Marian lehnte sich zurück. Ja, es war unumgänglich, eine bittere Arznei zu schlucken. Und das hieß wohl einzusehen, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Einen Weg, für den er gekämpft hatte, doch auf dem er gescheitert war. Er konnte das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, nicht halten. Er war wankelmütig und unzuverlässig, ein schwacher Charakter. Ein Mehlwurm eben.
    »Sie hat mich gefragt, ob ich vorwärtsgehen kann«, murmelte er wieder.
    »Und, kannst du, Bruderlieb?«
    Er streckte sich. Beladene Koggen, schwere Fuhrwerke, tiefliegende Flussschiffe. Fässer mit Seiden, Säcke voll Gewürzen, Korallen, Perlen und feinstes Glas. Händler mit scharfen Augen und flinken Fingern auf den Rechenbrettern, zähes Ringen um Preise und Gewichte, sorgfältige Prüfung der Qualität. Die großen Messen entlang der Handelswege, die Gemeinschaft der Reisenden, Hilfe und Konkurrenz, Gerüchte und Spekulationen …
    Marian seufzte.
    Es war eine aufregende Zeit gewesen, und unter den Händlern galt er als angesehener Mann, denn der Schatten seines Vaters lag über ihm und gab ihm Schutz und guten Leumund.
    Gegen die Vandalen hatte er ihn jedoch nicht schützen können.
    Er hatte für sich selbst kämpfen müssen und hatte beinahe alles verloren.
    »Was nahe liegt, übersieht man oft«, hatte Gislindis gesagt. Er hatte nicht darauf reagiert, aber ihre Worte klangen jetzt in ihm nach. Sie war eine weise Frau und erkannte manches, das noch unter den Nebeln der Zukunft lag. Nicht dass sie eine Wahrsagerin gewesen wäre, aber genau wie er hatte auch sie eine Gabe, das Wesen der Menschen zu erfühlen.
    Was lag nahe?
    Die Glocken begannen zu läuten, aus dem Kloster erklangen die letzten Worte des Psalms, den die Mönche gesungen hatten.
    » Erravi, sicut ovis, quae periit: quaere servum tuum quia mandata tua non sum oblitus. Ich bin wie ein verirrtes und verlorenes Schaf; suche deinen Knecht, Herr, denn ich vergesse deine Gebote nicht«, flüsterte Marian. Und dann sah er auf.
    »Ich kann, Alyss. Und ich werde vorwärtsgehen.«
    »Unserem Vater wirst du damit seinen größten Wunsch erfüllen.«
    »Als verlorenes Schaf?«
    »Wie viele Männer hat er schon zerschlissen wie brüchiges Leinen, seit du ihm erklärt hast, dass du nicht seine Nachfolge antreten wirst?«
    »Er könnte auch mich verschleißen.«
    »Hat er es je zuvor getan?«
    »Nein. Ich dachte immer, er nähme Rücksicht auf mich. Aber …«
    »Na?«
    »Neulich, da hat er sich auf mich gestützt. Heimlich nur, aber er … Alyss, der Allmächtige brauchte mich.«
    »Gelobt sei der Herr! Es wurde langsam Zeit, dass du das merkst.«
    Seltsamerweise fühlte Marian sich plötzlich leichter, wirkte die Welt wieder bunter, sangen die Vögel lauter, und die

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