Mit Freuden begraben – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
lassen, und das Vernünftigste wäre, nach Schwester Temperley oder Schwester Hall zu klingeln. Ihr Verhältnis zu Schwester Temperley und Schwester Hall war zurzeit jedoch alles andere als freundschaftlich, und eine solche Aufforderung würden beide als neuerlichen Anlass für Beschwerden ausnutzen. Besser wäre es also, selbst zu gehen. Ihre Patientin war nicht länger in Gefahr, und während einer so kurzen Abwesenheit würde ihr unmöglich etwas zustoßen …
Angetrieben von einem neuen schmerzlichen Krampf stürzte Schwester Hickey aus dem Raum.
Sie erreichte das Zimmer der Oberschwester, ohne gesehen zu werden, stibitzte sich eine ausreichende Menge Natron und kehrte ebenso unbeobachtet zurück. Und allein schon die Tatsache, über das lindernde Pulver verfügen zu können, schien ihr gut zu tun, ließen doch die Schmerzen bereits auf dem Rückweg nach und waren in dem Moment, als sie die Klinke hinunterdrückte, fast verschwunden. Sie seufzte erleichtert und öffnete die Tür.
Und im selben Moment durchzuckte sie die Angst wie ein Messerstich.
Das Licht war gelöscht. Die Vorhänge waren wieder offen. Jemand beugte sich über das Mädchen, das im Bett lag. Das Sternenlicht schimmerte matt auf Glas und Metall einer Injektionsspritze.
Für einen Augenblick stand Schwester Hickey wie vor Schreck betäubt da. Dann fand sie ihren Mut wieder, ihre Finger suchten und fanden das Buch auf der Kommode, und sie schleuderte es mit aller Kraft und Zielgenauigkeit.
Die Spritze schoss davon wie ein Pfeil, und die feine Nadel zerbrach an der Wand. Einen Moment lang zögerte die Person, die die Spritze in der Hand gehalten hatte, aber dann überwog der Impuls zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Indem sie nach leider allzu glattem Stoff griff, versuchte Schwester Hickey zu verhindern, dass die Gestalt quasi kopfüber aus dem Fenster sprang; dabei wurde sie ins Gesicht getreten und zu Boden geschleudert. Dort lag sie, ausgestreckt und benommen, während sich jemand rennend über den Rasen entfernte. Schwester Hickey rappelte sich auf und schaltete die Lampe über dem Bett ein.
Die Patientin lag ebenso still und reglos da wie zuvor, nur dass ihr linker Arm entblößt war und ausgestreckt auf der Bettdecke lag. Außer sich vor Angst griff Schwester Hickey nach der heruntergefallenen Spritze und untersuchte sie mit verschwommenem Blick.
Die Spritze war voll; sie war noch nicht benutzt worden.
Schwester Hickey lächelte kurz, betätigte die Klingel und fiel in Ohnmacht.
Um halb zehn am folgenden Morgen rief Wolfe Fen im »Fish Inn« an und fasste für ihn die Ereignisse der Nacht zusammen.
»Jane Persimmons?«, wiederholte Fen bestürzt. »Aber wozu, in Gottes Namen, sollte man versuchen, ausgerechnet sie umzubringen?«
»Das weiß der Teufel.« Wolfes Stimme klang wie die Stimme eines Mannes, der zu wenig geschlafen und sich zu viele Gedanken gemacht hatte. »Diese verdammte Angelegenheit wird von Minute zu Minute komplizierter. Natürlich hängt der Mordversuch an dem Mädchen nicht zwangsläufig mit Bussy und Mrs. Lambert zusammen. Jane Persimmons ist eine merkwürdig anonyme Person, und ganz offensichtlich hat sie ein Geheimnis. Deswegen ereignete sich der Anschlag auf sie vielleicht nur zufällig zur gleichen Zeit wie diese anderen Geschichten. Andererseits …«
»Andererseits sagt einem der Instinkt, dass es solche Zufälle nicht gibt.« Fen nickte zustimmend in den Hörer. »Hören Sie, könnten Sie mich über die Einzelheiten des Falles informieren? Mir ist klar, dass ich in keiner Weise berechtigt bin, mich überhaupt einzumischen. Dennoch schlage ich vor, dass ich es trotzdem tue, solange es gestattet ist.«
»Mein lieber Freund, Ihre Hilfe wird uns nur zu willkommen sein. Sie haben Erfahrungen in der Polizeiarbeit und sind alles andere als ein Amateur. Ich tappe im Dunkeln, und, wie ich höre, Humbleby ebenso. Ich versichere Ihnen, dass wir uns auf keinen Fall in professionellem Neid üben werden, falls es Ihnen gelingt, uns weiterzuhelfen … Sagen Sie, haben Sie heute Morgen irgendwelche Wahlkampfveranstaltungen?«
»Nichts von Belang, und es wird hoffentlich nicht lange dauern. Vermutlich hat sich Watkyn wieder irgendeine lästige Aufgabe für mich ausgedacht, aber ich treffe ihn erst um halb elf.«
»Nun, dann kommen Sie doch ins Krankenhaus. Humbleby und ich sind gerade auf dem Weg dorthin, um zu sehen, ob wir bei Tageslicht irgendwelche Spuren finden. Natürlich war ich gleich an Ort und
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