Mit Freuden begraben – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
Mädchen völlig, das ihr als einzige Person Gesellschaft leistete.
Schwester Hickey sah auf ihre Armbanduhr. Zehn nach eins. Sie hatte noch fast fünf Stunden vor sich … Unruhig sprang sie auf, ging zum Bett hinüber und blickte auf die bewusstlose Gestalt ihrer Patientin nieder. Sie sah nicht schlecht aus, das musste Schwester Hickey zugeben, und bei normaler Gesundheit besaß sie wahrscheinlich jede Menge Sexappeal. War aber wohl nicht gerade wohlhabend, ihrer Kleidung nach zu urteilen. Und man wusste rein gar nichts über sie, außer, dass sie vermutlich aus dem Ausland stammte. Das würde erklären, wieso sie keinen Besuch bekommen hatte, weder von Freunden noch von Familienangehörigen. Andererseits klang ihr Name durchaus englisch … Schwester Hickey, deren Verdauungsstörungen zeitweilig aussetzten, wurde sentimental. Wahrscheinlich hatte das Mädchen irgendwo einen Freund; bei ihrem Aussehen wäre alles andere geradezu unglaublich. Und sicher lag er in diesem Moment schlafend zu Hause im Bett und wusste nicht, wie nah sie dem Tod gewesen war. Nun, mit ein bisschen Glück würde sie bald das Bewusstsein wiedererlangen, und dann könnte sie vielleicht sagen, wer er wäre, und man könnte ihn benachrichtigen …
Unversehens stiegen Schwester Hickey Tränen in die Augen. Ihr freundliches irisches Herz hatte eine Schwäche für junge Liebende. Und während sie wieder vom Bett wegtrat, wandten sich ihre Gedanken ihrem Reggie zu – der ebenso in seinem Bett lag, unten in der Stadt, und vor sich hin schlummerte. Sie ging zu den Vorhängen hinüber und zog sie auf, womit sie irgendeine Kreatur der Nacht dicht vor dem Fenster aufscheuchte, die noch ein raschelndes Geräusch machte und dann wieder still war. Ein Viereck gelben Lichts breitete sich unter dem Fenster auf dem Rasen aus, der sich hinter dem Krankenhaus erstreckte. In der Ferne konnte man das Klappern von Geschirr vernehmen – zweifellos Schwester Bates, die sich mit Teekochen die Ödnis der Nachtwache verkürzen wollte. Wolken verdeckten den Mond teilweise, aber trotzdem konnte man den niedrigen Kirchturm von Sanford Morvel erkennen und die näher gelegenen Dächer der Ortschaft. Strapazierte man seine Vorstellungskraft auf das Äußerste, konnte man sich durchaus einbilden, man könne jenes spezielle Dach ausmachen, unter dem Reggie schlief. In diesem Augenblick träumte er vielleicht gerade von ihr, Rosalind. Viel wahrscheinlicher war jedoch (gestand sie sich nur höchst widerwillig ein), dass er es nicht tat. Sicher war bloß, dass er schnarchte, denn Reggie schnarchte, obwohl er gut aussah, vor Kraft strotzte und in jeder Hinsicht vorzeigbar war, immer. Man hätte ihm in früher Jugend die Polypen entfernen müssen, überlegte Schwester Hickey. Während sie über diese ärgerlichen Wucherungen nachdachte, runzelte sie die Stirn. In ihren Augen versinnbildlichten sie eine der grundlegenden Fragestellungen des Lebens, die Frage nämlich, wie Liebe, die real und schön war, mit dem Körper in Einklang gebracht werden könne, der ebenso real, aber allzu oft wenig anziehend war. Für diesen traurigen Widerspruch wusste Schwester Hickey keine Medizin. Der Liebesakt verkörperte das in der einfachsten und unbestreitbarsten Weise. Der Kuss eines jungen Mannes zeugt von Romantik. Aber dann wagt er sich ein Stückchen weiter vor, und das ist, obgleich es einem gefallen mag, nicht mehr romantisch. Und irgendwie finden diese beiden Aspekte der Liebe nie ganz zusammen, obwohl sie das doch eigentlich sollten …
In derlei Gedanken erging sich Schwester Hickey, als sie am Fenster stand und in Richtung des unerreichbaren Reggie hinausstarrte. Dass der christliche Glaube ihr einen Ausweg aus dem Zwiespalt anbot, war ihr vollkommen unbewusst. Wie den meisten Menschen ihrer Generation waren ihr nicht einmal die Grundlagen jener strengen und subtilen Doktrin bekannt. So verzagte sie und zerbrach sich den Kopf über Verdauungsstörungen und Polypen und Sex und romantische Liebe – bis zu dem Moment, als das erste dieser Phänomene plötzlich und ohne Vorwarnung zurückkehrte, um sie abermals zu plagen.
Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht. Sie schloss die Vorhänge und sah sich in blinder Panik im Zimmer um, auf der Suche nach einem Gegenmittel. Es gab keins. Aber im Zimmer der Oberschwester, fiel ihr ein, gäbe es Natron – und die Oberschwester war heute Nacht nicht im Krankenhaus … Natürlich durfte sie ihre Patientin eigentlich keine einzige Minute allein
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