Mit Fünfen ist man kinderreich
Treppe hinunter und entdeckte meine beiden verschlafenen Helden, die bibbernd vor Kälte in der offenen Tür standen. In diesem Augenblick knallte es wieder.
»Is'n Gewehrschuß«, erklärte Sven fachmännisch. Als fleißiger Konsument von Wildwest- und Karl-May-Filmen war er durchaus in der Lage, Gewehrschüsse von Pistolenschüssen akustisch zu unterscheiden.
»Jetzt hab' ich's auch gehört!« Sascha wollte aus dem Haus stürmen, ich konnte ihn gerade noch am Schlafanzug festhalten.
»Hiergeblieben! Es fehlte gerade noch, daß du so einem Wahnsinnigen vor die Flinte läufst!«
Eine ganze Weile standen wir noch am Wohnzimmerfenster, das den besten Ausblick auf den möglichen Amokläufer bieten würde, aber es geschah überhaupt nichts. Weder rollte ein Polizeikommando an, noch entdeckten wir maskierte Bankräuber, auf die speziell Sascha wartete, und die Dorfbewohner schienen von der ganzen Schießerei völlig unbeeindruckt geblieben zu sein. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Wir gingen also auch wieder in die Betten.
An diesem Morgen wartete ich fieberhaft auf Wenzel-Berta. Frau Häberle, die bestimmt schon Einzelheiten wußte, hatte ich verpaßt, die Zeitung steckte bereits im Briefkasten.
Endlich kam Wenzel-Berta. Meine Aufregung konnte sie überhaupt nicht verstehen.
»Schießen? Hier? Wo denn?«
»Die Schüsse kamen irgendwo aus den Weinbergen.«
Da zog ein verstehendes Grinsen über ihr Gesicht. »Ach so, was Sie meinen, is man bloß der Wengertschütz.«
»Der was?«
»Der Wein-berg-schüt-ze!«
Und dann erfuhr ich, daß kurz vor der Weinlese, wenn die Trauben schon nahezu ausgereift sind, ein Mann mit Luftgewehr durch die Gegend streift und die Vögel aufscheucht.
In Heidenberg war Karlchen mit dieser Aufgabe betraut worden, aber weil er außerdem noch den Schulbus fahren mußte, hatten die Vögel wenigstens zu ganz bestimmten Zeiten Ruhe und die Möglichkeit, ihre verpaßten Mahlzeiten nachzuholen. Allerdings erzählte Sven mir später, daß Karlchen auch im Bus ständig bewaffnet war und beim Anblick eines besonders großen Vogelschwarms jedesmal abrupt auf die Bremse trat, um völlig unwaidmännisch vom Auto aus zu schießen. Sascha beneidete ihn glühend um seinen Posten und beschloß vorübergehend, später einmal ›Wengertschütz‹ zu werden.
Herbstzeit bedeutet Pilzzeit, und Pilzzeit bedeutet stundenlange Spaziergänge durch die umliegenden Wälder, aber nicht etwa schön bequem auf den Wegen, nein, immer quer durchs Unterholz auf der Jagd nach Maronen – notfalls auf allen vieren. Oder auf Zehenspitzen über morastige Wiesen und glitschige Abhänge hinunter, denn dort wachsen Reizker. Steinpilze findet man oft zwischen trockenen Gräsern, die aber auch Spinnen und Schnecken beherbergen, jene von mir ganz besonders verabscheuten Tierarten. Nein, ich kann dem Pilzesammeln keinen besonderen Reiz abgewinnen.
Anders Rolf. Der ist mitten im Harz aufgewachsen und kannte bereits alle einschlägigen Pilzarten, bevor er ihre Namen buchstabieren konnte. So fühlte er sich bemüßigt, mir, die ich in Berlin großgeworden bin, seine umfangreichen Kenntnisse zu vermitteln.
In den ersten beiden Ehejahren bin ich noch getreu dem Motto ›wo du hingehst, da will auch ich hingehen‹ begeistert mit in den Wald gezogen, aber mit der gleichen Begeisterung pilgerte ich im Kielwasser meines kunstbeflissenen Gatten auch durch Museen und Ausstellungen. (Ich glaube, es hat damals in Düsseldorf und Umgebung keine Tonscherbe und keinen Saurierknochen gegeben, den ich nicht besichtigt habe, von den Gemäldesammlungen aus fünf Jahrhunderten ganz zu schweigen.) Später hat sich dieser Enthusiasmus weitgehend gelegt, und ich war froh, wenn ich
Sven vorschieben konnte, um diesen zwar sehr lehrreichen, aber auch ziemlich ermüdenden Exkursionen zu entgehen. Im zarten Babyalter interessierte sich Sven nicht für Vasen von Picasso, sondern wollte pünktlich seine Flasche haben!
Nur die herbstlichen Pilzwanderungen haben nie aufgehört. Als Sven noch nicht laufen konnte, wurde er kurzerhand mitten auf eine Wiese gesetzt, während seine Eltern in Sichtweite durch die Gegend streiften und Pilze suchten; später stapfte er bereitwillig mit. Bei Sascha wiederholte sich das gleiche Spiel, nur zeigte der genau wie ich wenig Lust, querbeet zu laufen, und setzte sich auf jeden dritten Baumstumpf mit der Begründung, er müsse sich jetzt ›ausruhen‹. Auch Stefanie hat als Kleinkind die Herbstmonate vorwiegend
Weitere Kostenlose Bücher