Mit Fünfen ist man kinderreich
aber aus mir nicht bekannten Gründen fühlt sie sich gerade zu meiner Familie besonders hingezogen. Rolf hatte sie mal geholt, als ich vor Jahren mit einer eitrigen Angina vierzehn Tage im Bett gelegen hatte und niemand da war, der Mann, Kinder und Haustiere versorgte. Und als er ihr zum Dank für das Samariterwerk einen Wochenendaufenthalt mit Vollpension in einer zum Hotel umfunktionierten alten Burg schenkte, erkor Tante Lotti ihn zu ihrem Lieblingsneffen. Allerdings mißbilligt sie seinen vermeintlichen Hang zum Alkohol und äußert mir gegenüber regelmäßig den Verdacht, Rolf würde sicher noch mal in einer Trinkerheilanstalt enden.
»Ich habe gestern auf das Etikett der Whiskyflasche einen Bleistiftstrich gemacht, und jetzt fehlt schon wieder mindestens ein Zentimeter!«
»Stimmt, den habe ich gestern abend getrunken.«
»Du? Fängst du denn jetzt auch schon an? Man liest zwar immer wieder, daß auch Frauen zu Alkoholikern werden, aber von dir hätte ich das nicht gedacht. Als ich so alt war wie du heute, habe ich noch nicht einmal gewußt, was Whisky überhaupt ist. Bei uns zu Hause gab es lediglich Wein, natürlich nur bei besonderen Anlässen. Dann wurde nach dem Essen auch Cognac serviert, allerdings nur für die Herren, nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten.«
Tante Lotti kann sich nicht daran gewöhnen, daß sich die Damen heute nicht mehr zurückziehen, sondern mittrinken. Unsere Hausbar ist ihr seit jeher ein Dorn im Auge, wobei die Bezeichnung Hausbar reichlich übertrieben ist. Auf einem Teewagen stehen lediglich ein paar Flaschen, ein Dutzend Gläser und ein Sodasiphon, und ich fühle mich keineswegs als akute Alkoholikerin, weil ich abends ganz gern mal einen Whisky trinke. Tagsüber verschwindet der Teewagen ohnehin im Schlafzimmer, weil es der einzige Raum ist, den die Zwillinge bei ihren Entdeckungsreisen aussparen. Ich schließe ihn nämlich ab. Trotzdem möchte ich nicht wissen, was sich der Heizungsmonteur gedacht hat, als er kurz nach dem Frühstück den defekten Thermostaten im Schlafzimmer auswechseln wollte und neben den noch ungemachten Betten die halbleeren Flaschen auf dem Teewagen sah, während die Dame des Hauses noch im Bademantel herumlief!
Tante Lotti reiste also an, bepackt mit zwei Koffern und einer Hutschachtel, Relikt aus längst vergangenen Zeiten, als man noch genügend Hüte und genügend Gepäckträger hatte. Übrigens transportiert sie in jener Schachtel keineswegs Hüte, sondern ihre Handtasche und den Reiseproviant inklusive Thermosflasche mit Kamillentee. Tante Lotti hat nämlich einen empfindlichen Magen. Zumindest behauptet sie das. Deshalb müssen während ihres Besuchs alle schweren Gerichte vom Speiseplan gestrichen werden. Zugelassen sind Kalbfleisch, gekochtes Huhn, Reis und gedämpfte Gemüse, ausgenommen Kohl und dessen Abarten.
Rolf kam während der nächsten Wochen mittags nie mehr nach Hause, Steffi lud sich noch häufiger als sonst woanders zum Essen ein, Sascha aß überwiegend bei Oliver, der dann eine weitere Konservendose öffnete oder einfach eine zweite Pizza in den Ofen schob. Nur Sven bewies Solidarität und schluckte mit Todesverachtung salzarmes Kalbsfrikassee mit salzarmem Wasserreis. Wenn sich Tante Lotti zu ihrem Mittagsschläfchen zurückgezogen hatte, plünderten wir gemeinsam den Kühlschrank!
Anfangs hatte ich versucht, für Tante Lotti gesondert zu kochen, aber wenn ich ihren waidwunden Blick sah, mit dem sie unsere gebackene Leber musterte, während sie in ihrem Reisbrei herumstocherte, verging mir der Appetit. Also lebten wir ein paar Wochen lang zwangsweise Diät, was regelmäßig zu einer Gewichtsabnahme führte. Zumindest bei mir! Nicht so bei Tante Lotti. Solange ich denken kann, kämpft sie gegen ihre Pfunde, probiert alle paar Wochen eine neue Diät aus, die sie nicht einhält, und beneidet alle Frauen, die unter 75 Kilo wiegen.
»Dabei esse ich doch wirklich kaum mehr als ein Spatz!«
Der Spatz verdrückt morgens mühelos zwei weichgekochte Eier mit gebuttertem Toast, braucht zum zweiten Frühstück geschlagene Bananen, Joghurt oder auch mal ein Glas Rotwein mit Ei (›natürlich nur wegen der notwendigen Vitamine‹), zum Nachmittags-Kamillentee ein paar Biskuits und vor dem Schlafengehen eine Scheibe Weißbrot (›aber ganz hauchdünn, bitte‹), gut bestrichen mit Kalbsleberwurst. Mit den regulären Mahlzeiten und den kleinen Zwischendurchhäppchen (›mein Magen muß immer arbeiten können‹) kommt da eine
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