Mit Haut und Haar: 6. Fall mit Tempe Brennan
diesem Klo gezogen hatten, doch ein anderer Teil von mir wollte sich einfach abwenden und nichts mit der Untersuchung eines weiteren Mords zu tun haben.
Freunde fragen mich oft: »Wie kannst du dich nur dauernd mit dem Tod beschäftigen? Verliert dadurch das Leben nicht an Wert? Macht es die Gewalt nicht zu etwas Alltäglichem?«
Ich tue diese Fragen meist mit einem Hinweis auf die Medien ab. Jeder ist mit dem gewaltsamen Tod konfrontiert. Die Leute lesen von Messerstechereien, Schießereien, Flugzeugkatastrophen. Sie hören die Statistiken, sehen die Filmberichte, verfolgen die Prozesse auf dem Gerichtskanal im Fernsehen. Der einzige Unterschied? Ich sehe die Leichen aus der Nähe.
Das sage ich. In Wahrheit aber denke ich sehr viel über den Tod nach. Ich kann ziemlich nüchtern sein in Bezug auf Menschen, die Geld damit verdienen, sich gegenseitig umzubringen. Aber ich kann nie umhin, Mitleid zu empfinden für die Jungen und Schwachen, die zufällig einem Psychopathen über den Weg liefen, der Stimmen von anderen Planeten hört, oder einem Junkie, der dringend fünfzig Dollar für einen Schuss braucht, oder für die wahrhaft Unschuldigen, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren und dann Ereignissen zum Opfer fielen, die sie gar nicht begriffen.
Meine Freunde interpretieren meinen Widerwillen, über meine Arbeit zu sprechen, als Gleichmut oder als Berufsethos oder sogar als Bestreben, sie zu schonen. Das ist es aber nicht. Ich schütze mich selbst, nicht sie. Nach Feierabend muss ich diese Kadaver kalt und stumm auf ihrem Edelstahl zurücklassen. Ich will dann nicht mehr über sie nachdenken. Ich will ein Buch lesen, einen Film sehen oder über Politik oder Kunst reden. Ich will meinen Blickwinkel neu ausrichten und mir ins Bewusstsein rufen, dass das Leben mehr zu bieten hat als Gewalt und Chaos.
Aber bei bestimmten Fällen ist dieser emotionale Schutzwall nur schwer aufrecht zu erhalten. Bei bestimmten Fällen kreisen meine Gedanken immer wieder um das schiere Grauen des Ganzen, so sehr mein Verstand sich auch dagegen wehrt.
Während ich Slidell und Rinaldi im Haus verschwinden sah, meldete sich in meinem Kopf eine winzige Stimme.
Sei vorsichtig, flüsterte sie. Das könnte einer der harten Fälle werden.
Der Wind frischte auf, wirbelte die vertrockneten Magnolienblätter und -blüten auf und peitschte die Kudzu zu grünen Wogen.
Boyd umkreiste meine Beine und schaute von mir zum Haus und wieder zu mir.
»Was ist denn?«
Der Hund jaulte.
»Du Feigling.«
Boyd würde es ohne ein Wimperzucken mit einem Rottweiler aufnehmen, aber Gewitter jagen ihm eine Heidenangst ein.
»Gehen wir rein?«, fragte Ryan.
»Wir gehen rein!«, brummte ich im Yul-Brunner-Alt.
Ich rannte aufs Haus zu. Ryan folgte. Boyd überholte uns.
Als ich auf die Veranda sprang, ging das Fliegengitter auf, und Slidells Gesicht erschien in dem Spalt. Er hatte die Zigarette durch einen hölzernen Zahnstocher ersetzt. Bevor er sprach, drehte er den Zahnstocher zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Sie machen sich in Ihre Calvin Kleins, wenn Sie sehen, was hier drin ist.«
12
Die Temperatur im Haus betrug deutlich über vierzig Grad. Die Luft war schal und moderig, es roch nach lange unbewohnt.
»Oben«, sagte Slidell. Er und Rinaldi verschwanden durch eine Doppeltür direkt vor uns, dann hörte ich Schritte über mir.
Der Kudzu-Vorhang der Veranda, die schmutzverkrusteten Fliegengitter und Fenster und das nahende Gewitter machten das Haus düster wie eine Höhle.
Ich konnte kaum atmen, kaum etwas sehen. Wie aus dem Nichts erfasste mich eine dunkle Vorahnung, und etwas Bedrohendes schlich sich in meine Gedanken.
Ich hielt den Atem an.
Ryans Hand berührte meine Schulter. Ich griff danach, aber sie war schon wieder verschwunden.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich schaute mich um.
Wir standen in einem Wohnzimmer.
Roter Plüschteppich mit marineblauen Sprenkeln. Wandtäfelung aus Kiefernimitat. Couch und Sessel im frühamerikanischen Stil. Armlehnen und Beine aus Holz. Rotblau karierter Bezug. Kissen übersät mit Bonbonpapieren, Polsterfüllung aus Baumwolle, Mäusekot.
Über dem Sofa ein Flohmarktdruck von Paris im Frühling, La Tour Eiffel völlig unproportional zu der Straße darunter. Ein geschnitztes Wandregal, voll gestellt mit Glastieren. Noch mehr Figuren in Stellung auf einem hölzernen Sims über den Fenstern.
Klapptische fürs Fernseh-Dinner mit Plastikauflagen und Metallbeinen.
Weitere Kostenlose Bücher