Mit Herz und Skalpell
gern.« Linda fuhr noch einmal die Umrisse der beiden Vögel entlang. »Das habe ich mir direkt nach meinem achtzehnten Geburtstag stechen lassen: zwei Schwalben als Symbol der Freiheit. Das, was ich mir zu diesem Zeitpunkt am sehnlichsten gewünscht habe.« Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen.
Alexandra sah sie interessiert von der Seite an, sagte aber nichts.
»Mein Vater ist ausgerastet«, fuhr Linda schließlich fort und verschränkte ihre Finger ineinander. »Und im Nachhinein betrachtet hatte ich wohl auch genau das damit bezweckt . . . unter anderem. Es war meine Art der Rebellion. Natürlich hatte mein Vater mit vorher immer verboten, mich tätowieren zu lassen. Und kaum war ich volljährig . . .« Linda ließ den Satz in der Luft hängen.
»Bereust du es denn?«, fragte Alexandra. Ihre tiefe Stimme hatte einen weichen Ton angenommen.
»Auf keinen Fall«, gab Linda prompt zur Antwort. »Ich mag es nach wie vor sehr gern.«
»Es ist auch sehr schön.« Alexandra warf ihr wieder einen Seitenblick zu. In ihren Augen schien ein unbekanntes Funkeln zu liegen.
Linda atmete hörbar aus. »Mein Vater sieht das ganz anders. Aber ich konnte es ihm ohnehin nie recht machen. Egal, was ich gemacht habe, es war nicht das Richtige.« Mit einem Mal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Eine kleine, mahnende innere Stimme warnte, dass Alexandra ohnehin schon genug von ihr wusste, vielleicht mehr, als sie wissen sollte. Doch Linda ignorierte es. »Du hättest ihn erleben sollen, als ich mit dem Geigenspielen aufhören wollte. Dabei hat es mir einfach keinen Spaß gemacht. Drei Jahre habe ich mich durch den Unterricht gequält.«
Alexandra lachte. »Und deine Familie wahrscheinlich gleich mit.«
»Absolut.« Linda verzog das Gesicht zu einer tragikomischen Grimasse. »Umso weniger habe ich verstanden, warum Papa dagegen war, dass ich aufhöre. Aber wahrscheinlich war er viel zu selten zu Hause, als dass er mein Üben gehört hätte.«
Bäume rauschten an ihnen vorbei. Alexandra war ziemlich schnell unterwegs, aber im Auto merkte man kaum etwas davon. Der schwarze SUV glitt fast lautlos über die Straße.
»Tja«, fuhr Linda fort, »dass ich dann anfangen wollte, Hockey zu spielen statt weiterhin Reitunterricht zu nehmen, hat ihm den Rest gegeben.«
»Hat er dich denn gar nicht unterstützt?«, fragte Alexandra.
»Nur bei den Dingen, die er für wichtig gehalten hat: Schule und Studium.« Linda seufzte. »Und zumindest was die Schule anging, hatte er wenig zu kritisieren. Da war ich gut, fast eine Musterschülerin. Wirklich aufmüpfig wurde ich in seinen Augen erst an der Uni.«
Alexandras rechte Hand glitt wie zufällig vom Lenkrad und legte sich auf Lindas Sitz. »Das hört sich aber alles nicht so richtig beneidenswert an.« Tastend bewegte sich die Hand auf Linda zu.
Linda schluckte. Rasch sprach sie weiter: »Ich hatte eine sehr schöne und glückliche Kindheit, das darfst du nicht falsch verstehen. Zwar war ich immer die Tochter aus gutem Hause, aber das wollte ich nie sein und habe es anderen gegenüber so gut es ging verheimlicht. Ich hatte viele Freunde, war viel unterwegs und habe jede freie Minute zum Rumtoben genutzt. Ob an der frischen Luft oder drinnen.«
Alexandras Finger kamen gefährlich näher. Gleich würden sie gegen Lindas Hand stoßen . . . Linda musste noch einmal schlucken. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie wusste, wenn Alexandra sie jetzt berührte, konnte sie für nichts garantieren.
In diesem Moment strichen Alexandras Finger ganz zart über ihren Handrücken.
Lindas Atem setzte aus. Sie starrte durch die Windschutzscheibe, suchte verzweifelt nach weiteren Worten, aber in ihrem Kopf schien dichter Nebel zu herrschen. Und so schwiegen sie, während Alexandra weiter ihre Hand hielt. Linda verlor jegliches Zeitgefühl. Ihr war, als schwebe sie auf einer warmen, rosa Wolke. Vielleicht war sie auch einfach nur verrückt geworden.
Erst als Alexandra auf einen Rastplatz bog, ließ sie Linda wieder los. Und schlagartig war alles so, als sei nie etwas passiert. Alexandras Gesichtsausdruck hatte sich zu einer undurchschaubaren Maske zurückverwandelt. Sie murmelte unverständliche Worte, als sie den Wagen anhielt, doch Linda traute sich nicht nachzufragen.
Wo sollte das alles nur hinführen?
~*~*~*~
L inda lag auf ihrem Hotelbett und starrte an die Decke. Der erste Tag in München war vergangen wie im Flug. Zwar waren sie erst am Nachmittag im Hotel angekommen, aber ein paar
Weitere Kostenlose Bücher