Mit Jockl nach Santiago
günstigster Weise auslegte, in Frage zu stellen und nach neuen Antworten und Werten im Christentum zu suchen. Ergebnis dieser gärenden Prozesse der Auseinandersetzung und des Insichgehens war die neue wie alte Erkenntnis, daß es Gut und Böse gibt und beide in einem immerwährenden Widerstreit stehen. Noch klarer ausgedrückt: für das Gute im Menschen steht die Seele, für das Böse der Körper, und diesen gilt es zu bezwingen, um einmal als rein (griechisch: katharos) und vollkommen die Loslösung von einer materialistischen Welt zu erlangen. Um ehrlich zu sein, die Gebote der Katharer lesen sich wie eine Epistel zur Vermeidung von grundsätzlich allem, außer Arbeit und Gebet. Trotzdem wuchs ihre Anhängerschar ~ ein schlimmer Dorn im Auge der Kirche. Diese begann nun die Katharer samt ihren als ketzerisch verdammten Lehren und Ideen zu bekämpfen und unbarmherzig zu verfolgen. Unter den Anhängern des neuen gereinigten Glaubens fanden sich auch Vertreter einflußreichen Adels mit großen Besitzungen, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis die veranstalteten Kreuzzüge gegen die Lehren der Katharer schließlich irgendwann einen rein politischen Aspekt gewannen. Und was im 10. und 11. Jahrhundert zu neuen Ufern einer angestrebten Vollkommenheit aufbrach, endete Mitte des 13. Jahrhunderts nach Konferenzen, Konzilen, Belagerungen, blutigen Eroberungen, Inquisition und Folter für immer in den Flammen der Scheiterhaufen. Zwar wurden noch bis ins 14. Jahrhundert versprengte Anhänger der Sekte aufgegriffen und den Qualen des Feuers ausgeliefert, doch der Traum von Reinheit und Vollkommenheit war ausgeträumt, die alten Zustände wiederhergestellt. Übrig blieben vom Intermezzo der Katharer zahlreiche Burgen als Zeugen jener Zeit, als man sein nacktes Überleben hinter belagerungsstrotzenden Mauern zu retten versuchte. Der ganze Südosten Frankreichs, dem hauptsächlichen Verbreitungsgebiet katharischer Lehren, ist gespickt mit Burgen, die die Wunden dieser erbitterten Auseinandersetzungen tragen. Die eindrucksvollsten unter ihnen, lange Zeit galten sie als uneinnehmbar, stehen zugleich in Landschaften von tiefgreifender Schönheit. Zu ihnen zählen Montsegur, Puilaurens, Peyrepertuse und Quéribus.
Zu letzterer knattert nun unser Jockl eine 17%ige Steigung hinauf, die auf einem kleinen Plateau als Parkplatz endet. Von hier kann man sich Queribus nur mehr zu Fuß über steile Pfade nähern. Die Burg überdauerte die Jahrhunderte als eine befestigte Felsnadel, so und nicht anders wirkt sie von unten besehen. Erreicht man über ein in Fels gehauenes Stufenwirrwarr ihre Mauern, sieht man sich schlagartig gegensätzlichen Gefühlen ausgeliefert: Angst, beim nächsten unbedachten Schritt in einen höllischen Abgrund zu stürzen - und Freiheit zugleich, Adlerfreiheit! Selten spürten wir eine exponierte Einsamkeit eindringlicher als hier heroben im engen Winkelwerk in einem Schloß der Lüfte. Der Wind heult, pfeift durch Ritzen und Öffnungen und nimmt uns fast den Atem, wenn wir uns hinter schützenden Mauern hervorwagen, um einige Blicke in eine faszinierende Landschaft zu riskieren, deren sanfte Täler und Reihen karger Felskämme unter einem weiß-blau-bewegten Himmel bis zu einem weit entfernten Horizont reichen. Nordwestlich von uns, in zirka sechs Kilometer Luftlinie, praktisch schräg vis-á-vis, forschen wir nach den Mauern des Châteaus Peyrepertuse, das in 800 m Höhe einen dieser Felskämme fast unkennbar krönt. Selbst schon zu einem Stück Fels geworden, trutzt es einsam und stolz als verlassene Hülle lang erloschenen Lebens allem zeitlichen Ungemach. Kennt man die Geschichte der Katharer, so wird einem außer einem grandiosen Weitblick auch ein Blick zurück heraufdämmern, als vor Jahrhunderten an dieser Stelle einfache Menschen ihren unerschütterlichen Glauben zu verteidigen suchten und sich im Kampf verschwendeten. Heute kämpfen wir nur noch gegen einen ungestümen Wind, der an den Säumen unserer Anoraks in schnarrendem Vibrato zerrt. An gespannten Sicherheitsseilen hangelt man sich über Treppen, durch Torbogen und an abschüssigen Stellen vorbei, und oft braucht es in dem tosenden Brausen schon ein kraftvolles Entgegenstemmen, um nicht vom Weg abgedrängt zu werden. In der Burg, von deren Räumen bis auf wenige Ausnahmen nur mehr die blanken Wände existieren, wanken wir in den Windböen wie Betrunkene herum - und erst beim Rückweg, da jagt uns das stürmische Gebläse wie kugeligen Unrat zu
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