Mit Jockl nach Santiago
allgemein das Savoir-vivre. Man trifft sie überall, und nicht selten wird man bei einer zufälligen Annäherung über ihren mobilen Komfort erstaunt sein, der alle technischen Errungenschaften umfaßt, die einen modernen Haushalt auszeichnen. Da gehören Wolfgang und ich mit unserer Fön-und-Bügeleisen-Minimalausstattung noch ins Mittelalter der technischen Revolution. Modische Bekleidung für die ganze Familie gehören ebenso zum Tiptop-Outfit wie blütenweiße, bestickte Bettwäsche. Unsere Begegnungen mit den Nomaden der Landstraße beschränken sich lediglich auf ein zufälliges Nebeneinanderlagem auf diversen Campingplätzen, doch immerhin Gelegenheit genug, um die vielfach gehegten Vorurteile gegen diese Menschen nicht zu bestätigen. Wenn wir uns ein Bild zurechtpuzzeln, das die Zigeuner mit einer Aura impulsiven Temperaments, geigenfideliger Romantik und messerzückender Gereiztheit umgibt und wir sie obendrein vielleicht heute immer noch in einem Kesselflickermilieu angesiedelt sehen wollen, dann ist das nicht das Problem der Zigeuner, sondern das unserer »ererbten Menschenkenntnis«.
Es war klar, daß wir mit dem ganzen Zigeunertrupp auf Clervals Campingplatz zusammentreffen würden; auch sie nächtigen hier. Mit einiger Verspätung zockeln wir daher, als gerade umfangreiche Rangierarbeiten im Gange sind, um die ungelenken Gefährte platzsparend abzuparken. Mit unglaublicher Routine und einem Lotsen, der sämtliche Wagen in die richtige Position winkt, haben die Männer in kürzester Zeit ihr »Dorf« zusammengestellt. Alsdann herrscht Ruhe - den ganzen Abend - die ganze Nacht. Niemand nähert sich uns oder unserem Jockl, niemand würdigt uns auch nur eines verstohlenen Blicks, doch jede der Frauen und Mädchen grüßt freundlich, als sich beim Wasserholen unsere Wege kreuzen. Heute gibt es endlich wieder ein Nachtmahl ohne Zuschauer und Fragesteller.
Schon nach Mitternacht wird deutlich, was uns frühmorgens erwarten wird: eine Waschküche. Der Lichtstrahl der einzigen Laterne am Campingplatz durchdringt kaum mehr die Nebelschwaden, als ich durch das nasse, ungemähte Gras in jene Richtung geistere, in der ich die Waschräume vermute. Eine steile Stiege führt in den ersten Stock eines betonierten Kastens hinauf, ausgestattet mit nicht mehr versperrbaren Türen vor den Toiletten und ausschließlich gletscherkaltem Wasser aus allen Hähnen.
Der Tagesanbruch bestätigt die Nebelsuppe: eine wallende Masse feinster Tröpfchen, in der die Konturen des Zigeunerlagers fast verschwimmen und der Fluß zu kochen scheint. Die Kälte hat uns um den Schlaf gebracht, sie treibt uns nun auch zur Eile an. Von den Zigeunern dringt kein Laut zu uns herüber, während wir unsere Habseligkeiten verstauen. Ausgerechnet heute wiehert Jockl beim Starten schreckliche Töne, und erst nach mehrmaligen Versuchen springt sein unwilliger Motor in rundlaufendem Geknatter an.
Die elf Kilometer nach l’Isle-sur-le-Doubs friert es uns die Löffel, Nasen und Pfoten rotblau. Aber dazu hat es nicht mehr viel gebraucht, zumal wir die ganze Nacht bereits wie auf Eis lagen und ich mir das heiße Kaffeewasser über die gefühllosen Finger gießen konnte, ohne es zu merken. In l’Isle-sur-le-Doubs erlöst uns eine Bäckerei von unseren Qualen. Steif und ungelenk treten wir in den Laden, dessen mollige Backstubenluft sich wie eine ofenwarme Decke um uns legt. Ich spüre, wie mein Gesicht abtaut und beginne vergnügt in mich hineinzukichern, als wäre ein eingefrorener Mechanismus wieder in Bewegung gekommen. Noch vor einer halben Stunde wär’ uns die Vorstellung von Sonne undenkbar gewesen, und doch steht sie jetzt unverschleiert am Himmel. Ein Café mit einem sonnigen Tisch davor, um dort unser zweites Frühstück zu verschnabulieren, ist schnell gefunden. Wie selbstverständlich, ja notwendig uns der Aufenthalt im Freien geworden ist; zu Hause würden wir einen mäßig warmen Oktobervormittag wie diesen wahrscheinlich in geschützten Räumlichkeiten verbringen und nicht unter freiem Himmel bei Kaffee und Zeitungslesen.
Wir wollen mit der Annehmlichkeit nicht allzu sehr übertreiben, und so sieht man uns bald wieder des Weges entlang des Doubs ins knapp 30 Kilometer entfernte Montbeliard. Nicht die Industriestadt, 16 Kilometer südlich von Belfort, gibt Anlaß für einen Besuch, sondern Sochaux, einer der Vororte. Der Name Peugeot wird jedem ein Begriff sein, das Peugeot-Museum vielleicht weniger. Als wir uns durch den ganzen
Weitere Kostenlose Bücher