Mit Jockl nach Santiago
Arkadenumgang. Im Frieden dieser Landschaft und seines einzigen Schmuckes schnabulieren wir unser mundiges Tafalla-Brot - plötzlich: Tack - Tock - Tack - Tock - Tick . Tock - »Aaaaaaaa, Himmiherrschoftzeitn, jezt regnts scho wieda!« fahre ich aus meiner mühsam gewahrten Ruhe auf. »Moch koa Theata, es trepfit nua!« besänftigt mich Wolfgang betont souverän. Natürlich tröpfelt es nur, aber aus den Hundertschaften von Wolken sehe ich es bereits kontinuierlich herauspritscheln. Es läßt sich nicht mehr verleugnen, nicht nur meine Blase, auch meine Psyche hat unter dem Wetter gelitten. Diagnose: schweres Regentrauma! Bis lange nach Santiago werde ich jedem noch so kleinen, weißen Wölkchen mit äußerstem Mißtrauen begegnen und es argwöhnisch unter Beobachtung halten; und um die Gummistiefel wegzupacken, davon muß mich ohnehin erst ein ordentlicher Sonnenbrand überzeugen.
Der Wind verbläst die Tröpfelei, und wir fahren mit einem Abstecher über Obanos nach Puente la Reina weiter, eine der wichtigsten Stationen am Camino, wo sich die von Roncesvalles und Jaca kommenden Pilgerwege vereinigen. Von hier führt schließlich der als legendär gewordene »Camino de Santiago« über elf historisch belegte Etappen und 623 zu marschierende Kilometer nach Santiago de Compostela. In Puente la Reina erinnert heute, neben Adelshäusern und ehemaligen Pilgerhospizen, noch die aus dem 11. Jahrhundert stammende sechsbogige und mit Wellenbrechern ausgestattete Pilgerbrücke über den Río Arga an die einstige Bedeutung des Ortes.
Nach der massiven Brücke verlassen wir die ausgebaute Straße und nehmen, unserer Radispur von damals folgend, die alte kurvige Straße nach Mañeru. Auch heute begeistern uns dabei die fantastischen Ausblicke in eine fremdartige und doch ansprechende Landschaft. Rascher als damals, als wir auf weiten Streckenabschnitten nur brombeerpflückend vom Fleck kamen, nähern wir uns diesmal über Cirauqui und Lorca dem »Toledo des Nordens« - Estella, das frühere Lizarra! Obwohl sich dieser Vergleich mit dem kastilischen Toledo auf die unglaubliche Vielzahl an Kirchen, Klöstern und Palästen bezieht, tut er der Stadt nichts Gutes, allenfalls lenkt diese Ruhmesbekleckerung erst recht auf einige ihrer Unzulänglichkeiten hin. Im Gegensatz zu Toledo ist Estella von Hügeln umgeben, entbehrt aber durch die Verstreutheit ihrer großartigen Bauwerke einer gewissen Geschlossenheit, darüber hinaus vereiteln architektonische Fehltritte der Neuzeit eine Harmonie im Stadtgefüge. Der Río Ega teilt Estella, und hüben wie drüben wird man von Kirchen, Palästen und Adelshäusern in die Besichtigungsmangel genommen. Diesmal genießen wir den Vorteil, nicht durch die ganze Stadt rennen zu müssen, um aus den weit über Ranzig sehenswerten Baudenkmälern die Highlights aufzuspüren. Wir wissen, wo Unsere persönlichen Leckerlis zu finden sind. Als da wären: die romanische Kirche Pedro de la Rúa, festungsartig von einem hohen Felsmassiv die Stadt überbauend; die Kirche Santo Sepulcro, Gotik in bester Ausführung; der dekorative Navarrapalast, ein einmaliges Beispiel romanischer Profanarchitektur; dazu noch eine Reihe stattlicher Adelshäuser mit zum Teil hervorragenden Jugendstil-Fassaden, bei denen ohne weiteres Antonio Gaudi Pate gestanden haben könnte. Die Innenstadt platzt vor Aktivität. Flanieren und Promenieren. Diese Vorliebe des Sehens und Gesehenwerdens in intakten, zurechtgeschniegelten Familienverbänden liegt wohl in den Genen eines jeden Spaniers, und wir amüsieren uns köstlich über diese allabendlichen Rituale. Weniger amüsant läuft es am Camp ab, wo man die Parzellen wegen Überfüllung bereits halbiert vermietet und sich Chaos und Lärm zwangsweise verdoppeln.
Die mitternächtlichen Gröler schnarchen noch einen gleichförmigen Kanon, als wir die Stätte dieses Flüchtlingslagers mit Oktoberfesteinschlag verlassen. Gänsehaut-Wind pfeift aus den nördlichen Bergen heran, was uns einen längeren Aufenthalt in Estella nur willkommen macht.
Bereits gestern fiel uns die positive Veränderung der Stadt seit unserem letzten Besuch auf. Eine ungewohnte Sauberkeit wohnt in den Straßen, viele Ruinen von Abbruchhäusern wurden beseitigt, Gebäude restauriert, gepflegte Rasenflächen angelegt und für Blumenschmuck gesorgt. Zwar finden sich da und dort noch immer eingestürzte oder mit Holzbrettern vernagelte Fassaden, aber so wie das Stadtbild in den letzten Jahren aufgemöbelt wurde,
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