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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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aber heute war er schon seit acht Stunden auf der Suche und hatte immer noch nicht gefunden, was er suchte. Er war erschöpft und hungrig. Zudem war es sehr gefährlich für ihn, sich durch die Stadt zu bewegen, und nun, gegen Abend, verursachte ihm die Anspannung Herzschmerzen und Schwindelgefühle.
    Er stand in der Metro, hielt sich an der Griffstange fest und schloß für einen Moment die Augen, um sich zu entspannen. Um diese Zeit fuhren die Leute von der Arbeit nach Hause, das war seine letzte Chance, eine solide alleinstehende Frau kennenzulernen. Später würden diese Frauen zu Hause sein, und auf den Straßen würde man nur noch solche antreffen, die zu einem Rendezvous gingen oder mit einem Mann unterwegs waren. Mach schon, laß dich nicht hängen, ermunterte Platonow sich innerlich, öffne die Augen, und strenge dich an, du hast keine Zeit mehr zu verlieren. Die letzte Nacht hast du an einem absolut sicheren Ort verbracht, aber ein zweites Mal kannst du diesen Ort nicht aufsuchen. Wenn du die passende Frau nicht findest, wirst du keine Unterkunft für die Nacht haben, und dann wird man dich in Null komma nichts fassen. Komm, Dmitrij, vorwärts, schlaf nicht ein!
    Er öffnete die Augen und begann, die Frauen im Abteil der Reihe nach zu mustern. Nein, die war es nicht, die auch nicht und die nächste ebenfalls nicht . . . Er ließ den Blick weiterschweifen und wurde plötzlich von einer heißen Welle überflutet. Zwei riesengroße braune Augen sahen ihn unverwandt an. Der Blick ging ihm durch und durch, wie ein glühendes Eisen.
    Die Frau war viel jünger als die, welche er im Sinn gehabt hatte, wahrscheinlich kaum dreißig, und sie war eine auffällige, schwindelerregende Schönheit. Sie sah Platonow lächelnd an. Dmitrij kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, daß die Erscheinung sich in Luft auflösen würde. Aber als er die Augen wieder öffnete, stand die Frau immer noch da, das Gesicht ihm zugewandt, und lächelte. Sie hielt sich an einer der senkrechten Griffstangen fest, weshalb Platonow nicht sehen konnte, ob sie einen Ehering am Finger trug. Als ob die Unbekannte seine Gedanken erraten hätte, veränderte sie ihre Haltung, und jetzt konnte Platonow ihre schmale Hand mit den langen schlanken Fingern sehen. Nein, sie trug keinen Ring.
    Zu jung, sagte sich Platonow. Zu schön. Zu . . . Aber ich bin so müde, so schrecklich müde.
    Die Metro näherte sich der Haltestelle und verlangsamte ihre Fahrt. Dmitrij zwängte sich durch die eng beieinander stehenden Fahrgäste hindurch zu der Unbekannten und berührte leicht ihre Schulter.
    »Wir müssen aussteigen«, sagte er mit halblauter Stimme und drängte sie sanft zum Ausgang. Die Frau lächelte und gehorchte wortlos.
    Auf dem Bahnsteig nahm er sie, ohne ein Wort zu sagen, am Arm und führte sie zu einer Bank, aber er setzte sich nicht, sondern stellte nur seinen Aktenkoffer ab und sah ihr schweigend ins Gesicht. Dann veränderte er allmählich seine Miene und begann zu lächeln.
    »Was haben Sie mit mir gemacht?« fragte er leise.
    In diesem Moment ertönte der Donner einer einfahrenden Metro auf dem Bahnsteig, und Platonow rückte ganz nah an die Frau heran, so nah, daß er durch das Parfum hindurch den Geruch ihrer Haut wahrnehmen konnte.
    »Ich habe nichts mit Ihnen gemacht«, sagte die Frau, während sie ihn weiterhin mit ihren dunklen Augen versengte.
    »Sind Sie eine Zauberin?«
    »Nein, ich bin Bibliothekarin.«
    »Warum verliere ich den Verstand, wenn Sie mich ansehen?«
    »Dasselbe könnte ich Sie fragen. Warum habe ich Ihnen gehorcht, als Sie sagten, daß wir aussteigen müssen? Ich muß überhaupt nicht hier aussteigen, sondern erst an der drittnächsten Haltestelle. Vielleicht liegt es nicht an mir, sondern an Ihnen?«
    »Sind Sie in Eile?« fragte Platonow, der immer noch nicht an sein Glück glauben konnte.
    »Nein.«
    »Werden Sie von jemandem erwartet?«
    »Nein, von niemandem.«
    »Darf ich Sie in diesem Fall zum Abendessen einladen?«
    »Natürlich.«
    »Ich heiße Dmitrij.«
    »Ich heiße Kira.«
    5
    Er betrat mit ihr ein kleines Restaurant auf der Ordynka. Irgendwann einmal hatte die schmale Steintreppe, die sie hinabstiegen, in einen schmutzigen, stinkenden Bierkeller geführt. Jetzt war die Treppe das einzige, was noch an diesen Bierkeller erinnerte. Alles war sehr sorgfältig und geschmackvoll renoviert worden, die jungen Kellnerinnen lächelten liebenswürdig, und es gab keinen Wunsch, auf den sie mit dem einst obligatorischen

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