Mit verdeckten Karten
keinesfalls auf das Territorium des Zentrums beschränkt werden. Klar war nur, daß der Mörder nicht mit einem einmaligen Passierschein ins Haus gelangt sein konnte, da das Passierscheinbüro erst um halb zehn öffnete und Tarassow bereits in der Zeit zwischen 8.30 und 8.45 Uhr ermordet worden war. Entweder hatte der Mörder einen ständigen Passierschein besessen, weil er im Zentrum arbeitete, oder er war mit einem der Mitarbeiter an der Passierscheinkontrolle vorbeigekommen, oder er hatte einen unbewachten Eingang benutzt.
Groß bist du, Mütterchen Rußland, und auf deiner Erde leben viele Menschen. Aber der Mörder von Jurij Jefimowitsch konnte durchaus auch ein Ausländer sein, einer von den dreitausend Hotelgästen des Zentrums.
Nastja vertiefte sich noch einmal in Tarassows lange Dienstliste. Sie studierte sie nicht zum ersten Mal und wußte bereits, daß Jurij Jefimowitsch einst als Chefingenieur in einer Gerätebaufabrik in Uralsk gearbeitet hatte, jenem Uralsk, aus dem auch der ermordete Hauptmann Agajew nach Moskau gekommen war. Was das bedeutete, war bisher unklar. Tarassow hatte den Betrieb in Uralsk schon vor einigen Jahren verlassen, Agajew war zu dieser Zeit noch an der Polizeischule in Karaganda gewesen, so daß die beiden sich wahrscheinlich nicht gekannt hatten. Das mußte freilich erst noch genau recherchiert werden, aber auch in dem Fall, daß sie sich gekannt hatten, wurde nichts klarer, im Gegenteil.
Das Fernschreiben, das man in Agajews Tasche gefunden hatte, besagte, daß er von einem gewissen Dmitrij Platonow, der im Ressort zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens arbeitete, nach Moskau bestellt worden war. Agajew hatte sich mit Platonow getroffen, das hatten mindestens zehn Leute aus dem Innenministerium gesehen. Nach der neuesten Vorschrift durfte das Ministerium nur betreten, wer entweder im glücklichen Besitz eines hochministerialen Passierscheines war oder über einen Sonderpassierschein verfügte, der die Türen zum Allerheiligsten des Kampfes gegen die russische Kriminalität öffnete. Es konnte natürlich keine Rede davon sein, daß Hauptmann Agajew im Besitz so eines Sonderpassierscheines gewesen war. Er hatte Platonow vom internen Telefon aus angerufen, das neben der Wache hing, und hatte geduldig gewartet, bis Platonow zu ihm herunterkam. Der wachhabende Sergeant konnte sich an Agajew. erinnern, er hatte auch Platonow gesehen, der kurz nach dem Anruf zum Eingang kam. Danach war Agajew nach Augenzeugenberichten zu Platonow ins Auto gestiegen. Das war am vergangenen Mittwoch, gegen 19.50 Uhr. Und um halb neun wurde Wjatscheslaw Agajew von den Bewohnern eines Hauses in der Wolodarski-Straße im Stadtteil Taganka tot aufgefunden. Der Hauptmann lag im Eingang eines der alten, heruntergekommenen, seit langem nicht mehr renovierten Häuser. Der Tod trat infolge einer Stichverletzung mit einem langen, schmalen Gegenstand ein, der Agajew mitten ins Herz gestoßen wurde. Und Platonow war inzwischen spurlos verschwunden. Der nächstliegende Verdacht fiel natürlich auf ihn.
Nastjas Überlegungen wurden durch das Erscheinen von Igor Lesnikow unterbrochen. Er war ein sehr strenger, ernsthafter, zuverlässiger und dabei außergewöhnlich schöner Mann, nach dem viele Frauenherzen in der Petrowka schmachteten, aber er verhielt sich immer korrekt, flirtete niemals und machte keiner Hoffnungen. Heute sah er irgendwie düster und gekränkt aus.
»Nastja, kennst du Russanow aus dem Ressort zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität?«
»Den Namen habe ich schon gehört, aber persönlich ist er mir noch nicht über den Weg gelaufen.«
»Und was weißt du über ihn?«
»Ich habe gehört, daß er ein guter, sehr kluger Ermittler sein soll. Seinerzeit hat er hier, in der Petrowka, gearbeitet, viele werden sich wahrscheinlich noch an ihn erinnern. Was ist mit ihm?«
»Weißt du auch, daß dieser gute, kluge Russanow der engste Freund des flüchtigen Platonow ist?«
»Was du nicht sagst. Sehr interessant. Da könnten wir uns doch überlegen . . .«
»Mach keine voreiligen Pläne!« unterbrach Lesnikow. »Man hat Russanow in unser Team eingeschaltet, als Vertreter des Ministeriums. Denkst du, daß uns das irgendwie gefährlich werden könnte?«
»Nein, es wird uns nur einiges Kopfzerbrechen bereiten«, sagte Nastja stirnrunzelnd. »Er wird bei jedem Wort, das wir sagen, die Nase rümpfen und alles besser wissen. Ich kenne Platonow besser als ihr, wird er behaupten, ich weiß genau,
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