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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Dusche gehen wollte, um die von der nervlichen Anspannung verkrampfte Nacken- und Rückenmuskulatur wenigstens ein bißchen zu lockern. Sie nahm mißmutig die Duschhaube vom Kopf, schlüpfte in ihren Bademantel und ging zur Tür.
    Dascha kam hereingestürzt und trug die frischen Düfte des Frühlings und ihrer ungestümen Jugend mit herein. Sie gab Nastja einen Schmatz auf die Wange, warf ihren weiten Trenchcoat ab, der vollständig verbarg, daß sie im sechsten Monat schwanger war, und wirbelte in Richtung Küche.
    »Dascha, wie oft muß ich dir noch sagen, daß du nicht wie eine Verrückte durch die Gegend rennen sollst«, ermahnte Nastja sie vorwurfsvoll, während sie ihr half, die riesige, mit Lebensmitteln vollgestopfte Stofftasche auszupacken.
    »Das ist gut für die Gesundheit«, erklärte Dascha fachkundig. »Das Herz muß belastet werden, sonst wird es träge.«
    »Paß nur auf, daß du dich nicht übernimmst«, erwiderte Nastja kopfschüttelnd. »Du hast Glück, daß mein Bruderherz nicht sieht, wie du, anstatt den Lift zu benutzen, die schweren Taschen die Treppen heraufschleppst. Wie sieht es übrigens aus mit seiner Ehescheidung? Bewegt sich etwas?«
    »Ich weiß es nicht.« Dascha zuckte sorglos mit den Schultern. »Ich frage ihn nicht danach, und von selbst sagt er nichts.«
    »Und warum fragst du nicht?«
    »Ich schäme mich. Es ist irgendwie peinlich.«
    Nastja betrachtete aufmerksam ihren Gast. Das reizende Gesichtchen hatte fast nichts von seinem Zauber verloren, nur das zarte Rosa der Wangen war deutlich blasser geworden. Aber die Augen waren groß und strahlend wie eh und je, sie blickten unverändert offen und liebenswürdig in die Welt. Nastja erinnerte sich daran, wie sie Dascha, die Freundin ihres Halbbruders, vor einem halben Jahr kennengelernt und sie damals für eine ausgemachte Schwindlerin gehalten hatte, weil es nach ihrer Ansicht solche Wesen wie sie auf der Welt nicht geben konnte. In der heutigen russischen Wirklichkeit waren so viel Warmherzigkeit und Güte, so viel Empfindsamkeit und Selbstlosigkeit in Verbindung mit so viel Verstand, Scharfblick und Courage einfach nicht denkbar. Nur ein Mensch wie Dascha konnte auf den Gedanken kommen, daß es peinlich war, den Mann, dessen Kind sie in drei Monaten zur Welt bringen würde, danach zu fragen, wie seine Scheidungsangelegenheiten standen und wann sie damit rechnen konnte, die gesetzliche Ehefrau von Alexander Pawlowitsch Kamenskij zu werden, einem jungen, erfolgreichen und wohlhabenden Geschäftsmann.
    »Dascha, stell dich nicht so an«, sagte Nastja streng. »Ich weiß, du fürchtest, die Leute könnten denken, daß du hinter einem reichen Mann her bist, aber man kann es auch übertreiben. Wenn du Sascha nicht hin und wieder an deine Wünsche erinnerst, wird er zu dem Schluß kommen, daß auch so alles bestens in Ordnung ist. Daschenka, meine Liebe, es gibt auf der Welt nur sehr wenige Menschen, die gern über unangenehme Dinge nachdenken. Die meisten ziehen es vor, unangenehme Gedanken zu verdrängen und die Dinge so zu sehen, wie sie ihnen gefallen. Sascha fällt es schwer, sich scheiden zu lassen, aber nicht etwa deshalb, weil er ein schlechter Mensch ist, sondern einfach deshalb, weil Ehescheidungen immer und für jeden schwierig sind, unabhängig von den Gründen für die Scheidung und vom Ausmaß der eigenen Schuld. Und wenn eine Scheidung sich vermeiden läßt, dann denken sich die meisten Leute alle möglichen Ausflüchte aus, um sich diese nervenaufreibende Prozedur zu ersparen. Unser Sascha ist vielleicht ein Gigant an Geschäftstüchtigkeit, aber bestimmt kein Gigant an Courage und Willensstärke. Und wenn du weiterhin schweigen und in ihm den Eindruck erwecken wirst, daß alles in Ordnung ist und daß du ihn auch ohne den Status als seine Ehefrau immer lieben wirst, wird er sich nie scheiden lassen. Hast du mich verstanden?«
    »Ich kann nicht«, sagte Dascha leise, mit gesenktem Kopf. »Ich bringe es nicht über die Lippen. Ich habe ihm doch selbst gesagt, daß ich auf ihn warten werde, so lange es nötig ist, und daß ich ihn immer lieben werde, ganz egal, ob er mich heiratet oder nicht.«
    »Das sollst du ja gar nicht zurücknehmen«, widersprach Nastja, während sie das Gas unter dem Wasserkessel anzündete. »Ja, du bist bereit zu warten, aber du hast das Recht, zumindest zu erfahren, wie lange du noch warten mußt. Sollte er dir sagen, daß es noch fünf Jahre dauern wird, wirst du nicht anfangen, zu heulen und dir

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