Mit verdeckten Karten
Irgendein undeutlicher Gedanke blitzte in der Tiefe ihres Bewußtseins auf, verschwand wieder und hinterließ eine diffuse Unruhe.
Nastja wußte, daß ihr innerer Computer drei verschiedene Arbeitsweisen besaß. Die eine Variante verlangte aufwendige Kleinarbeit, große Konzentration und ein sehr gutes Gedächtnis, um in dem Wust von Informationen das zu finden, was man suchte. Bei der zweiten Variante schaltete sich der Computer ganz plötzlich ein und reagierte auf völlig überraschende Dinge, so, wie es zum Beispiel gestern geschehen war, als die Zusammenstellung verschiedener Kleiderkombinationen für die Hochzeit sie auf den Gedanken gebracht hatte, daß Dmitrij Platonow verschiedene Leute stückchenweise mit verschiedenen Informationen fütterte, in der Hoffnung, daß die Zusammenfassung dieser Informationen zu einem Ganzen die Wahrheit ergeben würde. Bei der dritten Variante entzog sich der Computer ganz Nastjas Kontrolle und machte, was er wollte. Er kannte bereits die Lösung und sandte Nastja Signale, die einen leisen, unangenehmen Schauer irgendwo im Bereich des Solarplexus erzeugten, aber der Computer dachte nicht daran, ihr die Lösung mitzuteilen, sondern zwang sie, nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum nach den entsprechenden Programmen und Codes zu suchen.
Nastja spürte die ihr bekannte innere Unruhe, und es war ihr klar, daß ihr in der nächsten Zeit nichts weniger drohte als gesunder Schlaf und normaler Appetit. Sie würde ihre Arbeit weitermachen wie bisher, das »angesägte Glied« in der Kette suchen, in dem die Information steckengeblieben war, die von Dima Platonow zu General Satotschny hätte gelangen müssen, sie würde mit Andrej Tschernyschew darüber nachdenken, wie der Scharfschütze im Umland von Moskau zu fassen war, und dabei ständig an den Papierabschnitt denken, der aus einem Schulheft oder Kinderbuch stammte.
Warum hatte man das Papierstück mit der Kontonummer, auf die die Firma Artex das Geld für Platonow überwiesen hatte, bei dem ermordeten Agajew gefunden? Wenn Agajew erfahren haben sollte, daß Platonow Bestechungsgeld angenommen hatte, und wenn er es ihm gesagt hatte, dann hätte Platonow durchaus ein Motiv gehabt, seinen Kollegen aus Uralsk umzubringen. Aber in diesem Fall war es vollkommen unverständlich, warum der Mörder dem Opfer das Papierstück nicht abgenommen hatte. Denn ohne diesen Papierfetzen wäre die Sache mit dem Bestechungsgeld nie ans Licht gekommen.
Und wenn Agajew von der Geldüberweisung gewußt, aber Platonow nichts davon gesagt hatte? Aber warum? Weil er ihm nicht traute? Weil er die Sache selbst überprüfen wollte? Dann mußte man unbedingt wissen, wie dieses berüchtigte Papierstück überhaupt in seine Hände gelangt war. Hatte er es bereits aus Uralsk mitgebracht, oder hatte er es erst hier, in Moskau, von jemandem bekommen?
Nastja überprüfte Agajews Aufenthalt in Moskau noch einmal Minute für Minute. Er konnte keine Zeit gehabt haben, um auf dem Weg vom Flughafen zum Ministerium noch irgendeinen anderen Ort aufzusuchen. Allerdings war es möglich, daß er im Flughafen jemanden getroffen hatte. Genau denjenigen, der ihm den aus einem Malblock oder Schulheft stammenden Papierabschnitt mit der Kontonummer gegeben hatte.
Sie versuchte, sich den einfachsten und natürlichsten Weg vorzustellen, auf dem eine Notiz mit einer so brisanten Information in ein unschuldiges Kinderheft gelangen konnte. Das Bild entstand prompt und ganz selbstverständlich. Jemand bekommt bei sich zu Hause einen Anruf und wird aufgefordert, etwas aufzuschreiben. Er greift nach dem Nächstbesten, zum Beispiel nach dem Schulheft seines Sohnes oder seiner Tochter, schreibt am Rand der Seite die Buchstaben und Ziffern auf, und nach dem Telefonat schneidet er das beschriftete Ende sorgfältig mit der Schere ab. Ja, nur so konnte es gewesen sein. Hätte dieser Jemand selbst angerufen, hätte er zum Aufschreiben der Angaben ein Blatt Papier oder einen Notizblock bereitgehalten. Und hätte er nicht von seinem privaten, sondern von seinem Diensttelefon gesprochen, dann wäre da kein Kinderheft gewesen.
4
Am Samstag stand Kira zeitig auf, um zu ihren Eltern auf die Datscha zu fahren. Auch Platonow mußte sich erheben. Kira mußte Kaffeewasser aufsetzen, und die in der Küche stehende Liege versperrte ihr den Zugang zum Herd. Dmitrij beobachtete, wie sie auf dem Küchentisch schwarze Nylontaschen glattstrich und zu kleinen Vierecken zusammenfaltete, die bequem in den
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