Mit verdeckten Karten
während er gemächlich an seinem Brot weiterkaute. »Ich hatte Vierundzwanzigstundendienst, ich bin nicht mehr da.«
Nastja warf einen Blick auf die Uhr, es war halb fünf. Der Vierundzwanzigstundendienst begann morgens um zehn, und wenn Oleg jetzt immer noch da war, konnte man sich vorstellen, wie müde er war.
»Willst du nach Hause gehen?«
»Wenn das so einfach wäre mit euch«, brummte er erneut, mit einer leichten Bewegung der Beine, die offenbar seinen leidenschaftlichen Wunsch ausdrücken sollte, endlich von hier zu verschwinden. »Sie züchten jede Menge Banditen und Betrüger heran, und ein ehrlicher Beamter kommt nicht mehr zum Luftholen. Was willst du?«
»Ich will dir eine Liebeserklärung machen.«
Oleg öffnete lethargisch ein Auge, biß von seinem halbmeterlangen Brot ab und setzte seinen Kauprozeß mit geschlossenen Augen fort.
»Fang an«, sagte er nach einiger Zeit.
»Oljoshenka, mein Täubchen, meine wunderbare, pickelige Beere«, hob Nastja voller Inspiration an, um Oleg endlich aufzuwecken.
»Was für eine Beere?«
Subow öffnete sofort beide Augen und hob den Kopf, in seinem langen Pferdegesicht blinkte unverhohlenes Interesse auf.
»Eine pickelige«, wiederholte Nastja laut und deutlich.
»Warum pickelig?«
Er zog die Beine zu sich heran und winkelte seine Knie an.
»Weil die besten Beeren immer pickelig sind«, erklärte Nastja. »Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Maulbeeren. Hast du’s verstanden?«
»Nein, aber dafür bin ich aufgewacht.«
Er schüttelte kräftig seinen schläfrigen Kopf und nahm einen großen Schluck von dem heißen, starken Tee in der Tasse. Nastja kannte den Zustand schwerer Benommenheit, in dem man sich nach einem Vierundzwanzigstundendienst befand, wenn man nicht rechtzeitig schlafen ging.
»Also, was willst du?«
»Den Zettel mit der Kontonummer, der im Zusammenhang mit dem Mord an Agajew existieren muß.«
»Da hast du deine Stimmbänder umsonst bemüht«, grunzte Subow. »Der Zettel ist beim Untersuchungsführer.«
»Oleg, Lieber, ich bin sicher, du hast eine Kopie des Gutachtens.«
»Und die willst du wohl von mir haben?«
»Genau.«
»Nicht ›genau‹, sondern bitte, Herr Subow, heißt das. Nur über die Kantine.«
»Was soll ich dir bringen?« fragte Nastja bereitwillig. Die Angewohnheit des Gutachters, sich von jedem, der etwas von ihm wollte, erst etwas aus der Kantine bringen zu lassen, war allen bei der Kripo gut bekannt. Dabei wußte jeder, daß Oleg niemals eine teure Gabe verlangen und auch niemals eine solche annehmen würde. Das kleine Nahrungsgeschenk war für ihn nur wichtig als Zeichen der Anerkennung. Aus irgendeinem Grund brauchte Oleg das Gefühl, daß er anderen einen Gefallen erwies, obwohl er nichts anderes tat als das, was er ohnehin tun mußte, aber daran hatten sich alle längst gewöhnt und erblickten darin eine unabänderliche Seltsamkeit seines Charakters, so etwas wie die Marotte eines Genies.
»Eine Packung Kekse. Finnische«, sagte er.
Nach einer Viertelstunde kam Nastja mit einer runden blauen Packung finnischer Kekse zurück. Vor Oleg auf dem Tisch lagen bereits die Kopie des Gutachtens und die Ablichtungen eines weißen Papierabschnitts mit Ziffern und Buchstaben, einmal in Originalgröße, einmal in zweifacher Vergrößerung.
Auf der Vergrößerung waren am Rand des Papierabschnitts irgendwelche seltsamen Spuren zu erkennen, die an Punkte oder Kratzer erinnerten. Insgesamt waren da zehn von diesen Punkten, fünf an einer Stelle, fünf an einer anderen.
»Und was ist das?« fragte Nastja und deutete auf die Spuren.
»Druckerfarbe. Mir sind diese Stellen auch aufgefallen. Aber es ist nichts weiter als ganz gewöhnliche Druckerfarbe.«
»Ich frage mich, was für ein Stück Papier das ist, von wo es abgeschnitten wurde«, sagte Nastja nachdenklich. »Hast du eine Idee?«
»Nach der Qualität des Papiers zu urteilen, muß das irgendein Album oder Block gewesen sein, beispielsweise ein Malblock oder ein Album für getrocknete Pflanzen oder ein Kinderbuch vom Typ ›Mal es selber aus‹. Jedenfalls ist es kein Briefpapier, kein Schreibmaschinenpapier und auch keines für den Drucker.«
»Mit anderen Worten, wir suchen nach einer Person, die ein fünf- bis zwölfjähriges Kind hat. Also halb Moskau.«
»Dir kann man es nie recht machen.« Subow öffnete die Kekspackung und hielt sie Nastja hin. »Bedien dich!«
Sie griff mechanisch nach einem Keks und steckte ihn in den Mund, ohne etwas zu schmecken.
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