Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Titel: Mit Worten kann ich fliegen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Draper
Vom Netzwerk:
Morgens. »Auf zur Integration!«
    Vor lauter Aufregung zuckte ich unkontrolliert. Als die Hilfskräfte uns den Gang hinunter ins Musikzimmer begleiteten, fragte ich mich, ob ich neben einem normalen Kind sitzen durfte. Was, wenn ich etwas Dummes tat? Was, wenn Willy jodelte und Gloria sich in eine Ecke setzte und anfing zu schaukeln? Maria würde bestimmt verrücktes Zeug vor sich hinplappern. War das hier unsere einzige Chance? Was, wenn wir es vermasselten? Ich kriegte mich kaum ein. Wir würden in einem
regulären
Klassenzimmer sitzen!
    Die Musiklehrerin, Mrs Lovelace, hatte als Erste freiwillig angeboten, ihren Unterricht für uns zu öffnen. Das Musikzimmer war riesig – fast doppelt so groß wie unser Klassenzimmer. Meine Hände wurden schweißnass.
    Die Kinder im Raum waren ebenfalls vor allem Fünftklässler. Es würde sie wahrscheinlich überraschen, wenn sie wüssten, dass ich alle ihre Namen kannte. Beim Mittagessen und in den Pausen, während meine Klassenkameraden unter einem Baum sitzen und die kühle Brise genießen, habe ich sie jahrelang auf dem Pausenhof beobachtet, wie sie Völkerball oder Fangen spielen. Daher weiß ich, wer sie sind und wie sie ticken. Ich bezweifelte jedoch, dass sie einen von
uns
mit Namen kannten.
    Na ja, die ganze Veranstaltung kam einem Desaster nah. Willy, wahrscheinlich aufgebracht und verängstigt darüber, in einem neuen Raum zu sein, begann aus voller Kehle gellende Schreie auszustoßen. Jill fing an zu weinen. Sie klammerte sich an ihrer Gehhilfe fest und weigerte sich, die Türschwelle zu überqueren. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.
    Alle »normalen« Kinder im Musikraum – so an die dreißig, schätze ich – drehten sich um und starrten uns an. Einige von ihnen lachten. Andere schauten weg. Aber ein Mädchen in der hintersten Reihe verschränkte ihre Arme vor der Brust und warf ihren Klassenkameraden, die sich danebenbenahmen, böse Blicke zu.
    Molly und Claire, zwei Mädchen, die jeder kannte, weil sie zu fast allen auf dem Pausenhof gemein waren, imitierten Willy. Sie passten auf, dass sie außerhalb der Sichtweite der Lehrerin blieben. Aber ich sah es. Und Willy auch.
    »Hey, Claire!«, sagte Molly, verdrehte die Arme über ihrem Kopf und beugte ihren Oberkörper, sodass er verkrümmt aussah. »Sieh her! Ich bin behindert!« Sie lachte so heftig, dass sie Rotz ausschnaubte.
    Claire prustete auch los und ließ dann Spucke aus ihrem Mund sabbern. »Duh, buh, wuh, buh«, sagte sie, schielte und tat so, als würde sie aus ihrem Stuhl rutschen.
    Endlich bemerkte es Mrs Lovelace. »Steh bitte auf, Claire«, sagte sie streng.
    »Ich hab nichts gemacht!«, antwortete Claire.
    »Du stehst auf und Molly auch«, fügte Mrs Lovelace hinzu.
    »Wir haben nur gelacht«, verteidigte sich Molly. Aber sie stellte sich neben Claire.
    Mrs Lovelace nahm die Stühle der beiden Mädchen und schob sie an die Wand.
    »Warum haben Sie das gemacht?«, protestierte Claire.
    »Ihr habt gesunde Körper und einwandfrei funktionierende Beine. Benutzt sie«, wies Mrs Lovelace sie an.
    »Sie können uns nicht die ganze Stunde stehen lassen!«, stöhnte Claire.
    »Das Schulamt schreibt vor, dass ich euch in Musik zu unterrichten habe. In den geltenden Regeln steht nichts darüber, dass ihr sitzen müsst, während ich das tue. Bleibt jetzt stehen und seid still oder ich schicke euch ins Büro der Schulleiterin, weil ihr unhöflich zu unseren Gästen ward.«
    Sie standen. Mitten in der dritten Stuhlreihe, wo alle anderen bequem saßen, standen sie.
    Diese Lehrerin ist klasse!
    Danach lief es besser. Jill, die immer noch weinte, wurde von einer der Hilfskräfte zurück in unser Klassenzimmer gebracht. Der Rest von uns saß still hinten im Raum.
    Mrs Lovelace fing die Stunde von vorne an. »Ich glaube, wir brauchen einen Augenblick, um uns zu sammeln, Kinder.« Sie setzte sich ans Klavier und begann,
Moon River
zu spielen, und ging dann über zur Titelmelodie von einem dieser neuen Vampirfilme. Oh ja, sie wusste, was uns gefiel. Als ich begann, Farben zu sehen, war mir klar, dass sie gut war. Waldgrün, Limonengrün, Smaragdgrün.
    Ich warf einen Blick hinüber zu Gloria. Statt sich wie sonst einzurollen, waren ihre Arme ausgestreckt, als würde sie versuchen, die Musik einzufangen und näher an sich heranzuziehen. Ihr Gesicht strahlte beinah. Sie begann, sich im Rhythmus der Musik hin und her zu wiegen.
    Dann änderte Mrs Lovelace das Tempo komplett und spielte die Eröffnungsnoten

Weitere Kostenlose Bücher