Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
für mich werden. Worte schweben leicht durch meinen Kopf, aber Zahlen scheinen wie Steine auf den Boden zu sinken. Ich weiß nicht, warum.
»Lass es uns noch einmal versuchen«, sagte Catherine geduldig, als ich bei einer Matheaufgabe über Züge und deren Geschwindigkeit völlig durcheinandergeriet.
Niemand fährt mehr mit dem Zug! Wen interessiert das also?
Aber sie gab nicht auf, bis ich es verstanden hatte. Ich entdeckte, dass es mir leichter fiel, die Antworten zu finden, wenn ich die Zahlen in meinem Geist in eine Bildergeschichte verpacke. Ich änderte die Nummern in Worte. Zauberei!
Anstatt zu meinen Integrationsstunden zu gehen, schüttelte ich den Kopf und ließ Catherine wissen, dass ich nicht hinwollte. Ich wollte lieber bleiben und lernen.
Offenbar vermisste man mich nicht. Niemand schickte eine besorgte Nachricht in Raum H-5, um nachzufragen, warum Melody heute nicht im Unterricht erschienen war. Niemand steckte seinen Kopf zur Tür herein, um zu sehen, ob ich vielleicht nicht da war oder krank, oder ob ich einen Anfall mitten auf dem Fußboden hatte.
Niemandem schien es aufzufallen.
Kapitel 19
Die Woche verging wie im Flug. In der Schule lernte ich jeden Tag mit Catherine, nach der Schule jeden Tag mit Mrs V. und außerdem jeden Abend zu Hause. Ich sah mir noch einmal die Wörter auf allen Ebenen meines Geräts an. Ich übte, lange Wörter zu schreiben und Ereignisse und Daten zuzuordnen. Ich erfand meine eigenen Quizfragen. Mom stellte mir Fragen über Blumen und medizinische Begriffe. Dad stellte mir Fragen über Wirtschaft, Management im Einzelhandel und Sport. Ich verschlang alles.
Manchmal sitze ich in meinem Zimmer und tippe einfach nur neue Sätze ein, die Elvira später sagen kann. Einen Buchstaben nach dem anderen. Es dauert Stunden. Aber wenn ich einmal etwas eingegeben habe, muss ich nur noch eine Taste drücken und der ganze Satz wird für mich gesprochen.
Ich glaube, die Frage, die man mir am häufigsten auf viele unterschiedliche, merkwürdige Arten stellt, ist: »Was stimmt mit dir nicht?« Oft wollen die Leute wissen, ob ich krank bin oder Schmerzen habe oder ob mein Zustand reparabel ist. Also habe ich zwei Antworten vorbereitet: Eine ist höflich, aber auch etwas lang, und eine ist ein wenig frech. Für diejenigen, die echte Besorgnis zeigen, drücke ich eine Taste, die sagt: »Ich habe spastische Tetraplegie, auch bekannt als Zerebralparese. Sie beeinträchtigt meinen Körper, aber nicht meinen Verstand.« Den letzten Teil finde ich ziemlich cool.
Zu Menschen wie Claire und Molly sage ich: »Wir alle haben Unzulänglichkeiten. Welche sind deine?« Ich konnte es kaum erwarten, diesen Satz zu benutzen. Als ich ihn Mrs V. vorführte, lachte sie so heftig, dass sie grunzen musste.
Jetzt ist es Samstag vor dem Auswahltest, und Mrs V. und ich sitzen draußen auf ihrer Veranda. Ich habe eine dünne Jacke an, aber es ist einer dieser seltenen warmen Februartage, der die Hyazinthen reinlegt und sie glauben lässt, der Frühling sei da. Am liebsten würde ich die kleinen Knospen warnen und ihnen sagen:
Wartet! Nächste Woche wird es schneien. Haltet noch einen Monat still!
Aber jedes Jahr zittern die Frühlingsblumen im letzten Schnee der Saison.
Wir betrachten die Wolkenfetzen, die über uns hinweggleiten. Ein kanariengelber Goldzeisig hockt auf dem Geländer und sieht zu der leeren Vogelfutter-Röhre auf, die über ihm baumelt. Ich wette, wenn er reden könnte, würde er um ein paar Distelsamen bitten – und um mehr solch warme Tage.
»Was würdest du tun, wenn du fliegen könntest?«, fragt Mrs V., als sie von dem Vogel zu mir herüberschaut.
»Ist das eine Quizfrage?« , will ich wissen und muss beim Tippen grinsen.
»Ich glaube, alles andere haben wir durchgenommen.« Mrs V. kichert.
»Ich hätte Angst, loszulassen« , tippe ich.
»Angst zu fallen?«, fragt sie.
»Nein. Angst, dass es sich so gut anfühlt, dass ich einfach davonfliegen würde.« Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das getippt hatte.
Sie schweigt sehr lange. Schließlich sagt sie: »Du bist ein Vogel, Melody. Und am Montag bei der Prüfung
wirst
du fliegen.«
Ich höre, wie nebenan unsere Haustür laut zuschlägt, und winke Mom und Penny zu, die zur Veranda herüberspazieren. Toffee, eindeutig glücklich, von der Leine gelassen zu werden, springt neben ihnen her, schnüffelt am Fuße eines jeden Baumstamms.
Penny legt abwechselnd ihre Stirn in Falten und lächelt, während sie sich mit
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