Mit Yoga Lebensaengste bewaltigen
der Ausdruck »Ergänzungspol« besser gefallen. Dem Begriff »gegen« haftet ein Beigeschmack von Dagegensein und Bekämpfen an, der hier nicht gemeint ist. Die Angst braucht nicht bekämpft zu werden, weil sie nichts grundsätzlich Schlechtes ist und, wie wir gesehen haben, zum Menschsein dazugehört. Vielleicht kennen Sie aus den asiatischen Kampfkünsten das Ritual, sich zunächst vor dem Partner zu verneigen. Je geschickter und kompetenter der Partner ist, desto mehr lockt er auch die eigene Kampfkunst und Geschicklichkeit hervor. Dafür bedankt man sich und verneigt sich. Wenn dann eine aggressive Bewegung auf mich zukommt, wird nicht dagegengehalten, sondern die Bewegung wird aufgegriffen, weitergeführt und in eigene Energie verwandelt, die dann in Richtung Partner geht. Beim Zuschauen entsteht der Eindruck von Pendeln und Schwingen, denen eine tänzerische Eleganz innewohnen. Diese Methode lässt sich auch auf den Umgang mit der Angst übertragen: die Kraft, die in jeder Emotion liegt, aufgreifen und verwandeln. Die Geschichte kennt einige Beispiele von zunächst ängstlichen Menschen, die gerade durch die Überwindung dieses Gefühls etwas Hervorragendes geleistet haben.
Die genauere, bessere Frage wäre also: »Was fehlt dem ängstlichen Menschen, was braucht er, um vollständiger zu sein?« Diese Frage hört sich leichter an, als sie ist. Tatsächlich ist der Gegenpol ja auch nicht für alle Menschen gleich. Für manche wäre es wichtig, den Mut und das Selbstvertrauen zu stärken, für andere geht es mehr um das Thema Liebe, sowohl Selbst- wie Fremdliebe. Für wieder andere ist es wichtig, Entspannung zu lernen oder mehr Flexibilität im Denken. Oder liegt das Lernziel vielleicht in der Überwindung der Lähmung und im Gewinn von mehr Vitalität? Eine zunächst sehr ängstliche Patientin hatte eine Aufgabe gefunden, mit der sie sich sehr identifizierte. Alsich sie nach ihrer Angst fragte, sagte sie: »Oh, ich hatte gar keine Zeit, über meine Angst nachzudenken.«
In der kindlichen Entwicklung ist die Betreuungsperson verantwortlich dafür zu spüren, was der Säugling braucht, wenn er schreit. Ist er müde und wünscht sich eine Hilfe zum Einschlafen? Sucht er Spiel und Anregung, braucht er Nahrung oder friert bzw. schwitzt er? Hat er Blähungen oder stören ihn die nassen Windeln? Bereits in diesem frühen Alter gibt es viele Möglichkeiten für ein »Was willst du stattdessen, wenn dir nicht gefällt, was im Moment da ist?«. Im frühen Alter ist das Kind nur in der Lage mitzuschwingen bei dem, was gerade ist. Die frühe Entwicklung ist ganz durch Modelllernen und Nachahmung geprägt.
Die Fähigkeit, etwas anders zu wollen, entwickelt sich erst später, im Trotzalter. Auch hier weiß das Kind noch nicht, was es stattdessen will, es weiß nur, dass es für seine weitere Entwicklung notwendig ist, auch mal etwas anders zu machen als das, was die Erziehungsperson im Moment von ihm will. Die Fähigkeit zu Autonomie, Abgrenzung und einem klaren Willen ist also eine reifere Fähigkeit, die erst in einem späteren Alter gelernt wird und im Verlaufe des Lebens immer wieder ein Update braucht.
Wenn Eltern und Erziehende sowohl die Fähigkeit zur Nachahmung wie die zur Abgrenzung positiv begleiten, kann sich eine authentische Persönlichkeit entwickeln. Oftmals ist es wichtig, zuerst auch das (von den Erzieherinnen und Erziehern) Unerwünschte in seiner positiven Qualität zu würdigen. Ich erinnere mich an eine Ferienfreizeit für aggressive, schwer erziehbare Jugendliche, die wir von der Beratungsstelle aus organisiert hatten, in der ich damals arbeitete. Bei einem Spaziergang durch eine gebirgige Gegend fingen die Jugendlichen plötzlich an, sich mit herumliegenden Steinen gegenseitig zu bewerfen. Während ich noch in einem Moment der Fassungslosigkeit verharrte, hob ein Kollege von mir ebenfalls einige Steine auf und rief: »Prima, toll! Wir werfen jetzt alle gegen diesen Pfahl dort, mal sehen, ob wir ihn umwerfen können.« Er fing voller Energie an zu werfen. Die Jugendlichen machten es ihm nach, weil sie sich verstanden fühlten. Es entwickelte sich eine Wettkampfsituation, die im Verlauf der vierzehntägigen Freizeit immer mehr in konstruktive gemeinsame Tätigkeiten mündete. Im Nachhinein konnten wir diese Situation als Test verstehen, ob wir in der gleichen Art gegen sie kämpfen, wie sie es aus ihrem Alltag zu Hause gewöhnt waren, oder ob es uns gelingt, sie dort abzuholen, wo sie
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