Mitch - Herz im Dunkeln
Schande! Mitch.“ Sie lachte. „Natürlich! Mitch. Kein Wunder, dass Mitch dir so bekannt vorkam. Woran erinnerst du dich sonst noch?“
Erinnerte er sich an mehr als diesen einen schrecklichen Tag? Er versuchte sich an die dunkle Gasse zu erinnern, an den Mann mit dem Bart. Aber da war nichts. Keine Verbindung. Ihm fiel nicht einmal sein Nachname ein, sosehr er sich auch anstrengte.
„Ich habe von meinem … von meinem Vater geträumt. Er wurde getötet. Erschossen.“
„Gütiger Himmel“, flüsterte Becca. „Bist du dir sicher, dass es nicht bloß ein Traum war? Manchmal …“
„Ich habe keine Ahnung. Es kam mir alles sehr real vor. Ich habe oft davon geträumt, aber erst jetzt wurde mir klar, dass es sich bei dem Mann in meinem Traum um meinen Vater handelte. Und es kommt mir jedes Mal vor, als wäre es eine Erinnerung. Einiges ist ziemlich bizarr. Zum Beispiel weiß ich, dass mein Vater tot ist. Aber dann steht er auf, und es wird echt grausig.“ Er trank noch einen Schluck und versuchte die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. „Ich glaube, es ist nicht bloß ein Traum. Ich glaube, einiges davon ist tatsächlich passiert.“
Becca sah erneut zu ihm. „Hast du … hast du ihn wirklich gesehen, nachdem er tot war?“
„Ich glaube, ich war dabei, als er getötet wurde.“
„Um Himmels willen, Mitch!“
„Ich war fünfzehn.“ Mitch beobachtete die Fahrbahnmarkierungen, die im Licht der Scheinwerfer leuchteten und unter dem fahrenden Pick-up verschwanden.
Wie alt war er jetzt? Fünfunddreißig lautete die Zahl, die ihm als Erstes in den Sinn kam. Das schien hinzukommen. Vor zwanzig Jahren hatte er zum ersten Mal eine Waffe in die Hand genommen und abgedrückt.
„Willst du mir davon erzählen?“ Beccas Stimme klang sanft und unsicher.
Vor zwanzig Jahren hatte er zum ersten Mal einem Menschen das Leben genommen.
Mitch betrachtete Becca hinter dem Lenkrad. Sie sah müde aus, aber sie war unbesiegt. Sie wirkte so stark und unverwüstlich, obwohl die letzten Tage unglaublich schwierig für sie gewesen sein mussten. Und Mitch war sich absolut sicher, dass sie nicht die Route 285 nach Santa Fe und zur Ranch nehmen würde, wenn sie nach Clines Corners kamen.
Nein, sie würde bei ihm bleiben. Sie würde nicht von seiner Seite weichen und diesen Weg mit ihm zu Ende gehen. Sie würde bei ihm sein, egal wohin dieser Weg ihn führte. Und vielleicht noch weiter.
Allerdings war es nur eine Frage der Zeit, bis die Jungs aus dem Van am Busbahnhof in Wyatt City entdeckten, dass das Schließfach Nummer 101 direkt vor ihrer Nase leer geräumt worden war. Und es war außerdem nur eine Frage der Zeit, bevor die Suche nach ihm intensiviert wurde.
Zwar kannte Mitch den Grund für diese Verfolgungsjagd immer noch nicht, doch wusste er eines ganz genau: Er würde Becca auf keinen Fall in Gefahr bringen.
Auch wenn das bedeutete, dass er sich beim nächsten Tankstopp aus dem Staub machen musste. Auch wenn es bedeutete, dass er Becca ohne eine weitere Erklärung verlassen musste, selbst ohne ein Wort des Abschieds.
Er wollte das nicht. Er wollte sie nicht voller Fragen zurücklassen. Er hatte ihr ohnehin schon viel zu wenig Antworten geben können.
Sie hatte ihn gefragt, ob er ihr davon erzählen wollte. Und genau das musste er ihr geben. Das war er ihr schuldig – das bisschen Vergangenheit, an das er sich erinnerte. Das schreckliche Ereignis, das ihn vermutlich zu dem gemacht hatte, der er heute war.
„Ja“, sagte er. „Ich würde es dir gern erzählen. Aber es ist ziemlich heftig. Wenn ich also aufhören soll …“
„Dann werde ich es dir schon sagen“, unterbrach sie ihn in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass das nicht passieren würde.
„Ich war fünfzehn“, begann er. „Ich erinnere mich nicht genau daran, wo wir waren, vermutlich irgendwo im Nahen Osten. Mein Vater war Pastor und gehörte seit Kurzem zu einer multikonfessionellen Friedenstruppe. Es war eine große Sache, und er war stolz auf seinen neuen Posten.“
Es war eigenartig: Becca von diesen Dingen zu erzählen half ihm, sich zu erinnern. Er erinnerte sich an den offenen Flughafen, auf dem er mit seinen Eltern landete. Er erinnerte sich genau an den Duft von exotischem Essen, an die vielen bunten Farben und Menschen. Er erinnerte sich an seine Enttäuschung darüber, dass das Hotel ein hohes modernes Gebäude war und kein altes, geheimnisvolles.
„Wir waren seit ungefähr zwei Wochen dort, als mein Vater und ich
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