Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
desto «fähiger» muss es sein, andere in dieser indirekten Art emotional zu beeinflussen. Menschen, die auf Grund früherer Verwundungen sehr darauf angewiesen sind, die Reaktionen ihrer Mitmenschen unter Kontrolle zu halten, müssen alles daran setzen und unter Umständen «schwere Geschütze» auffahren, um ihren Einfluss sicherzustellen und gleichzeitig die Urheberschaft dieses Einflusses zu leugnen . Neurotische Symptome sind unter Umständen solche schweren Geschütze: Angstzustände, Anfälle von Jähzorn, Zwangshandlungen usw. üben auf den Mitmenschen einen starken Druck aus, gleichzeitig eignen sie sich zur Leugnung der Urheberschaft (denn der Leidende «kann ja nichts dafür»). Natürlich leidet der «erfolgreiche» Neurotiker auch an seinen Symptomen; er ist bereit, einen Preis zu zahlen. Der Preis besteht nicht nur in den Unannehmlichkeiten, die das Symptom selbst bereitet, sondern oft auch darin, dass der verdeckt Appellierende nicht wirklich das bekommt, was er braucht: Mit Verhaltensstörungen, Wutausbrüchen u.a. erwirkt ein Kind zwar Zuwendung, doch nicht liebender, sondern strafender Art. Dies ist besser als nichts, aber doch nicht «das». Ebenso erwirkt ein Kollege, der durch ewig bissige Bemerkungen und überhebliche Kommentare seine Kollegen gegen sich aufbringt, zwar viele Reaktionen und eine immer wiederkehrende Mittelpunkts-Position. Die Devise seiner privaten Logik lautet: «Lieber gehasst als ignoriert werden, wo mein Bedürfnis nach Zuwendung doch so groß ist!» Jedoch erweist sich dies auf die Dauer als kümmerliche Ersatzbefriedigung für das «Eigentliche».
3.2
Appellwidriges Reagieren des Empfängers
Wie soll nun der Empfänger auf die geheimen Appelle reagieren? Es ist schon mehrfach angedeutet worden: Durch ein appellgemäßes Verhalten läuft der Empfänger Gefahr, ein problematisches Verhalten zu stabilisieren, ungewollt (oder gewollt?) zum «Lernen am Erfolg» beizutragen. Es ist oft eine schmerzliche Einsicht für die Eltern von gestörten Kindern und für die Lebenspartner neurotischer Menschen, dass sie durch ihr eigenes Verhalten die Störung wenn nicht hervorbringen, so doch zumindest stärken und zur Aufrechterhaltung der Symptome beitragen. Das neue Lernziel für den Empfänger lautet daher in bestimmten Fällen: appellwidrig reagieren. Dies ist gar nicht so einfach, denn unsere Antworten auf geheime Appelle erfolgen fast automatisch: Jemand weint – ich spüre den Impuls, ihn (sie) in den Arm zu nehmen; jemand «stellt sich dämlich an» – ich spüre den Impuls zu sagen: «Gib her, lass mich das machen!» Ein Kind fällt mir mit ständigen Provokationen auf den Wecker – mir «platzt der Kragen» und ich lasse ein «Donnerwetter» los; Astrid petzt («Resi hat ihren Atlas in die Ecke gepfeffert!», s. Abb. 14) – der Lehrer antwortet: «Ich werde gleich mal sehen, was da los ist!» In allen Fällen spielen die Empfänger das Spiel mit und leisten dadurch ihren Beitrag zur Wehleidigkeit, zur Inkompetenz, zum Tyrannisieren, zum Verpetzen ihrer Mitmenschen. Wie sieht die Alternative aus? Was bedeutet es, appellwidrig zu reagieren bzw. «das Spiel nicht mitzuspielen»?
Der erste Schritt besteht darin, dass der Empfänger eine Bewusstheit entwickelt für die heimlichen Vorgänge: Indem er in sich hineinhorcht, welche Gefühle und Handlungsbereitschaften der Sender in ihm auslöst, erhält er einen Hinweis darauf, «woher der Wind weht». Entscheidend ist jetzt, diesen Wind zwar zu spüren, ihm aber nicht zu erliegen.
Im zweiten Schritt hat sich der Empfänger die Frage zu stellen: Welches heimliche Interesse könnte mich dazu verleiten, das Spiel mitzuspielen? Vielleicht ist es mir nur unterlaufen – aber auch in achtlosen automatischen Reaktionen steckt ja oft eine verborgene Zielstrebigkeit. Vielleicht war es mir gar nicht so unlieb, auf das Spiel des Senders immer wieder hereinzufallen – sodass wir beide an einem Strang gezogen haben, der uns jetzt zum Strick zu werden droht?
Dieser zweite Schritt leitet die Eigenanteilsklärung des Empfängers ein. Alle psychologischen Ratgeber, die diesen Schritt auslassen, müssen mit ihren gut gemeinten Empfehlungen scheitern.
Erst im dritten Schritt stellt sich die Frage nach der Alternative. Ein appellwidriges Verhalten, d.h. eine Reaktion des Empfängers, die den heimlichen Absichten des Senders nicht entspricht, nennt Beier «a-sozial». Diese Weigerung, das Spiel mitzuspielen, ist allerdings nur dann
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