Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
wie er sagt: «Schmeckt scheußlich!» und sich hinterher erbricht.
So scheint es zunächst widersinnig, Appelle in die Gegenrichtung überhaupt in Betracht zu ziehen. Sehen wir uns aber ein von Adler (1973) mitgeteiltes Beispiel an (s. Abb. 83):
Abb. 83:
Unterschiedliche Appell-Strategien von Mutter und Tochter.
Die zweijährige Tochter tanzt auf dem Tisch herum. Entsetzt ruft die Mutter: «Komm sofort herunter!» – die Tochter tanzt weiter – Appell wirkungslos. Der dreijährige Bruder ruft: «Bleibe oben!», sofort steigt die Kleine herunter.
Alfred Adler kommentiert diesen Vorfall: «Es ist gar keine Frage, dass man einem Kinde beibringen kann, darin seine Größe zu fühlen, wenn es das Gegenteil tut, was einer ihm rät» (1973, S.44). Wir hatten schon erörtert, dass der um seine Selbstachtung besorgte Empfänger sich unter Umständen einem Appell nicht deshalb widersetzt, weil er ihm ungelegen kommt, sondern weil er ihn als unzulässigen Eingriff in sein «Königreich» erlebt und die Befolgung als Eingeständnis einer persönlichen Niederlage. Umgekehrt kann die Nichtbefolgung als Beweis der eigenen Unabhängigkeit erlebt werden und somit als Gelegenheit, die eigene «Größe zu fühlen» (schon dadurch, dass dem appellierenden Sender ein Misserfolg beschert wird). – Adler sprach von der Erscheinung des gegenteiligen Erfolges: «Es wäre oft nicht schwer, Kinder wie auch Erwachsene durch Anbefehlen des Gegenteils auf den richtigen Weg zu bringen» (1973 a, S. 220). Die Möglichkeit eines «gegenteiligen Erfolges» beruht auf der Tatsache, dass mit einem Appell oft ein Druck verbunden ist, der einen Gegendruck beim Empfänger hervorruft. Und zwar, wie wir gesehen haben, besonders dann, wenn sich mit dem Appell gleichzeitig die «Oberhand-Frage» stellt und/oder wenn der Appell beim Empfänger eine Veränderung intendiert, die diesem unbequem oder unmöglich ist. Satirisch gemeint, aber mit einem «Körnchen Wahrheit» ist der mit dem Datum des 15. Oktober 1810 datierte «allerneuste Erziehungsplan», den Heinrich von Kleist in den Berliner Abendblättern vorstellte:
«… sind wir gesonnen, eine sogenannte Lasterschule, oder vielmehr eine Gegensätzesche Schule, eine Schule der Tugend durch Laster, zu errichten.
Demnach werden für alle einander entgegenstehenden Laster Lehrer angestellt werden, die in bestimmten Stunden des Tages, nach der Reihe, auf planmäßige Art, darin Unterricht erteilen: In der Religionsspötterei sowohl als in der Bigotterie, im Trotz sowohl als der Wegwerfung und Kriecherei und im Geiz und in der Furchtsamkeit sowohl als in der Tollkühnheit und der Verschwendung.
Diese Lehrer werden nicht bloß durch Ermahnungen, sondern durch Beispiel, durch lebendige Handlung, durch unmittelbaren praktischen, geselligen Umgang und Verkehr zu wirken suchen …
In der Unreinlichkeit und Unordnung, in der Zank- und Streitsucht und Verleumdung wird meine Frau Unterricht erteilen. Liederlichkeit, Spiel, Trunk, Faulheit und Völlerei behalte ich mir vor.» (Sämtliche Werke o.J., S. 946)
Diesem Plan vorangestellt sind Überlegungen zum «gemeinen Gesetz des Widerspruchs»:
«… das Gesetz, das uns geneigt macht, uns, mit unserer Meinung, immer auf die entgegengesetzte Seite hinüberzuwerfen. Jemand sagt mir, ein Mensch, der am Fenster vorübergeht, sei so dick wie eine Tonne. Die Wahrheit zu sagen, er ist von gewöhnlicher Korpulenz. Ich aber, da ich ans Fenster komme, ich berichtige diesen Irrtum nicht bloß, ich rufe Gott zum Zeugen an, der Kerl sei so dünn als ein Stecken» (ebd., S. 943).
Tatsächlich lässt sich in Diskussionen häufig beobachten, dass bei einem komplexen Diskussionsgegenstand mit positiven und negativen Aspekten leicht eine Polarisierung eintritt der Art, dass wenn der Sprecher A die positiven Aspekte betont, sich gleich ein Sprecher B findet, der, gleichsam die noch freie Position einnehmend , die negativen Aspekte dagegenhält. Jeder Spruch erzeugt seinen Widerspruch. Dieser Vorgang enthält Chancen und Gefahren. Die Chancen liegen darin, dass die verschiedenen Aspekte eines Sachgegenstandes durch die verschiedenen Gesprächsteilnehmer sozusagen ihre «Anwälte» bekommen und dass die «ganze Wahrheit» somit erst in der Kommunikation zutage tritt; dass die Synthese formulierbar wird, wenn These und Antithese gut vertreten waren. Die Gefahr hingegen ist, dass die Anwälte der Aspekte sich als Vertreter von Halbwahrheiten bekämpfen, ein
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