Mithgar 15 - Drachenbann
denn für einen Elf ist das nur ein Schritt auf einem endlosen Weg.
Was nicht heißt, dass Elfen nicht sterben könnten; auch sie werden von Waffen oder Gift dahingerafft, durch Zufall oder böse Absicht, oder von einer anderen lebenden Kreatur getötet, die um ihr Leben kämpft. Außerdem können Elfen auch verhungern, verdursten, ertrinken, verbrennen oder auf jegliche andere natürliche Art ums Leben kommen, wie sie auch den wenigen und seltenen, dafür jedoch tödlichen Krankheiten erliegen können, die es in ihrem Volk gibt. Ohne dieses äußerliche Eingreifen jedoch geht das Alter nahezu spurlos an ihnen vorbei, und der Tod würdigt sie keines zweiten Blickes.
Aus diesem Grund, da die Ewigkeit darauf wartet, von diesen großartigen Geschöpfen ermessen zu werden, kann es da verwundern, dass der Tod eines der ihren den Elfen größte Gram bereitet? Es spielt dabei keine Rolle, wie viele Jahreszeiten seit der Geburt des Unglücklichen verstrichen sein mögen, denn der Elf hat trotz all der verflossenen Jahre erst die Schwelle des Lebens überschritten, hat es gerade erst begonnen, und sein Tod hat eine endlose Existenz grausam beendet.
An jenem strahlenden Tag jedoch, da Riatha, Daor und Rein unter den Greisenbäumen einherschlenderten, dachten sie nicht an Tod und Sterben. Stattdessen redeten sie über Riathas bevorstehende Reise nach Mithgar, der Welt der Sterblichen, überlegten, was sie dort erwartete und berichteten ihr von den Pflichten, die sie dort würde erfüllen müssen.
Sie blieben auf der Lichtung stehen und setzten sich an das Ufer des funkelnden Flüsschens, dessen Wasser wie Diamanten unter der Sonne glitzerte. Daor betrachtete seine goldblonde Tochter und schnitt ein bekanntes Thema an.
»Was bedeutet es, ewig zu leben?«
Die Elfenlehrer hatten ihren Schülern dieselbe Frage schon häufig gestellt, in den Lauben, wo sie unterrichtet wurden, und in denen auch Riatha gelernt hatte. Diesmal jedoch war es ihr Vater, der diese rhetorische Frage stellte, und sie wartete, dass er fortfahre.
Sie machten es sich also an dem Fluss auf der Lichtung gemütlich, und Daor sprach weiter.
»Was es bedeutet? Wie es den Ehrgeiz beeinflusst, die Lust nach Macht, nach Ruhm, die Suche nach Wissen, das Streben nach Wahrheit?
Wie unser unendliches Leben uns von den Sterblichen unterscheidet? In unseren Bestrebungen, unseren Beziehungen, ja im alltäglichen Leben?
Betrachte die Eintagsfliege: ihre schnelle Geburt, ihr hastiges Leben, ihr beinahe augenblicklicher Tod. Wie unterscheidet sich die so flüchtige Existenz der Eintagsfliege von der aller anderen sterblichen Kreaturen? Von der der Menschen? Der der Waerlinga? Der der Zwerge? Von der der vielen Bewohner Mithgars, der Mittelwelt der Sterblichen?
Sieht man sie mit den Augen eines unsterblichen Wesens, stellt man da aus dieser Perspektive bedeutende Unterschiede fest? Die Antworten darauf und mehr erwäge ich nach wie vor, meine Tochter, genauso wie du es tun musst.
Bedenke auch, wie sich die Antworten unterscheiden würden, wenn man die Fragen aus der Sichtweise der Eintagsfliege beantwortete.
Aber gib acht! Die Eintagsfliege wird von dem stärksten Bedürfnis von allen angetrieben: sich zu paaren, sich fortzupflanzen. Es geht um das Überleben ihrer Spezies. Da werden keine Fragen gestellt und keine anderen Bedürfnisse übergeordnet.
Wenden wir unseren Blick jedoch auf andere Kreaturen, stellen wir fest, dass auch sie dem Zwang der Fortpflanzung unterliegen; aber je größer die jeweilige Lebensspanne der Wesen wächst, desto größer wird auch die Rolle, die andere Antriebe, andere Bedürfnisse und Wünsche spielen: Selbsterhaltung, Zuflucht, Bequemlichkeit, Wohlergehen, Vergnügen, Neugier und noch mehr, viel mehr.
Je länger das Leben einer Spezies andauert, desto mehr gewinnen jene anderen, späteren Bedürfnisse an Bedeutung, die Wünsche und das Verlangen, und vermögen manchmal sogar die primitiveren Triebe zu verdrängen.
Aber erneut sage ich: Achtung! Die Wünsche, Bedürfnisse und das Verlangen der Unsterblichen unterscheiden sich ebenso sehr von denen der meisten Sterblichen, wie sich deren Bedürfnisse wiederum von denen der Eintagsfliege unterscheiden.
Dennoch müssen wir die Fragen stellen, die uns mit ihren Antworten einen Einblick in das Leben der Sterblichen geben, Fragen, die uns erlauben, das Leben mit ihren Augen zu sehen. Denn die Handlungen dieser Sterblichen können das Leben der Elfen nachhaltig beeinflussen, ebenso wie
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